Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Lasst uns dafür sorgen, dass in unserem Land
endlich die Vernunft siegt und Aufklärung sich
ausbreitet wie eine heilsame Epidemie.                                                                         
 
Mich trägt keine Lehre. Die Lösung weiß ich nicht.
Ich schenke euch Zweifel und rate zum Verlust.

Ich kam nie an, suchte kein Endziel,
blieb unterwegs, bin es immer noch.

–Günter Grass

Literatur der Ausnüchterung

Umstritten wie er auch gewesen sein mag, vielfach gelobt und oft niedergeschrien – Günter Grass hat in der deutschen Kultur- und Demokratiegeschichte seit 1945 unverkennbare Sinnzeichen gesetzt. Nach Jahrzehnten der Wesensvergötzung und Machtperversion des Nationalen war es dieser Zweiunddreißigjährige, der in seiner ‚Blechtrommel’ (1959) ein durch Nazi-Wahn, Krieg und Holocaust ruiniertes Deutschland zu jener literarischen Ausnüchterungs-Groteske modellierte, die dem Ungeist von Beschweigen und falscher Versöhnung das Höllengelächter eines kleinbürgerlichen Schuld-Syndroms entgegenhielt. Das Befremdetsein von sich selbst als Tätervolk anzuerkennen und mit solcher Fragwürdigkeit zu leben – der halbkaschubische Künstler-Schriftsteller hat dies seinen Zeitgenossen in den fünfziger und sechziger Jahren auf erratische Weise beizubringen versucht. Dem literarischen Impetus der ‚Blechtrommel’ zufolge durfte das bundesdeutsche Selbstverständnis nicht mehr in kunstgeweihten Nationalmythen daherkommen, sondern sollte als historisches Projekt einer alltagsgrauen Sühnepflicht erkennbar werden. Es waren die in der jungen Republik umstrittenen Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Verantwortung gegenüber Kriegsinferno und Judenmord, die als moralischer Reflexionskern der ‚Danziger Trilogie’ artistische Funken schlugen.

Schon Oskar Matzerath, der misswüchsige Zeitreisende durch Nazi-Welt und posttotalitäres Biedermeier, dieser fragwürdige Zeuge und durchtriebene Dämon, Angeklagter und Richter gleichermaßen, brachte die Bestialität, die Infantilität und die Verbrechen des Hitler-Regimes und seiner Nachwirkungen in Symptomatik und Sinnbildlichkeit zur Anschauung. Mit der ‚Blechtrommel’ war die ‚Stunde Null’ in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts von Grund auf in Frage gestellt.

Kein anderes Literaturwerk setzte ein so unübersehbares literaturpolitisches Fanal, dieser avantgardistische und doch massenwirksame Roman kam einem erinnerungskulturellen Quantensprung gleich. Zehn Jahre nach Gründung der rheinisch-deutschen Republik musste sich das konservative juste milieu an einen schnauzbärtigen Intellektuellen gewöhnen, der es im öffentlichen Für und Wider zu einem ihrer wortmächtigsten Geistesväter bringen sollte. Am Ende hat dieser Nonkonformist und Wort-Bild-Künstler den public spirit eines jungen Gemeinwesens ohne Leitbild, das seine Identität erst im Verlauf konfliktreicher Selbstfindungsdiskurse aufbauen konnte, beeinflusst wie kaum ein zweiter.

Günter Grass – mit diesem Nimbus verbindet sich eine bundesdeutsche Erfolgsgeschichte, eine geradezu symbiotische, von vielen Irritationen, Abwehrkämpfen und Zustimmungsemphasen geprägte Geist-Macht-Evolution, die mehr als ein halbes Jahrhundert Bestand gehabt, und auch die Außenrepräsentanz der Republik entscheidend mitbestimmt hat. Insbesondere an Grass erlernt der nachkriegsdeutsche Zeitgeist das politische Buchstabieren, und zugleich steigt dieser Wort- und Bild-Werker im Kanon der Weltliteratur zu singulärer Berühmtheit auf. Seit jenen Jahren entwickelt die globale Öffentlichkeit wieder Interesse an deutscher Kultur und Befindlichkeit, an der vormaligen Herrschernation werden Hoffnungszeichen von Selbstkritik und Vergangenheitsbewältigung erkennbar.

Günter Grass und die glückende Demokratie der Bundesrepublik – das umfasst vor allem die Sinn- und Mentalitätsgeschichte von Auschwitz, jenen dunklen Komplex nationaler Erinnerungspolitik, den der Künstler nicht nur in frappierenden Denkbildern und Moralreflexionen fassbar werden ließ, sondern als Person selbst verkörpert hat. Nur eine Ikone wie er vermochte über Jahrzehnte die Glut der schuldbeladenen Zeithistorie so glaubhaft wie skandalumwittert zu schüren, und den Deutschen ihren von Rückschlägen gebeutelten Fortschritt im Schneckengang begreiflich zu machen. Trotz seines höchst empfindlichen Warnsinns vor allem menschlich Regressiven und Desaströsen hat Günter Grass nie aus den Augen verloren, dass seine Landsleute zum Ziel einer weltoffenen und demokratisch ermutigten Zeitgenossenschaft kommen konnten und sollten. Es gibt eine Glanz- und Glücksgeschichte des Kunst- und Wort-Bildners, des politischen Intellektuellen und Literaturnobelpreisträgers von 1999, aber es gibt auch eine Streit- und Verketzerungshistorie dieser unverwechselbaren Person, deren Biographie auf komplizierte Weise in Deutschland geerdet ist.

Fremd und ortlos sei er gewesen, zeitlebens nirgendwo ganz zu Hause, immer auf der Suche, seine Erscheinung habe der des modernen Flüchtlings entsprochen, so beschreibt Salman Rushdie einmal die intellektuelle Physiognomie des Freundes.

Für diesen aus deutsch-kaschubisch-polnischer Heimatlichkeit vertriebenen „Künstler der Ungewissheit“ konnte es demnach nur eine Lebensperspektive geben – sein in die Fremde verschlagenes Ich und seine zerrüttete Zeit aus eigener Gestaltungskraft imaginativ zu überschreiten, um sinnverbürgende Traditionsräume und verlässliche (Wert-)Orientierungen für die eigene Identitätsbildung zu gewinnen. Mit dem Umbruchjahr 1945 ist seine alte Lebenswelt dahingegangen, eine künftige Heimat noch lange nicht in Sicht.

Die Blechtrommel
Rushdie

Freunde: Salman Rushdie und Günter Grass