Neunter Newsletter


Trommelwirbel

9. Newsletter Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Verehrte, liebe Literaturfreunde,
Günter Grass und die Musik – in seinem Schreiben und Leben wurde sie zu einer geliebten Größe. In unserem Medienarchiv befindet sich ein Video, das den Waschbrett spielenden Schriftsteller in einer Combo zeigt. In einem zweiten Film empfiehlt er sich während der Frankfurter Messe in einer spontanen Aktion als begeisterter Ragtime-Tänzer. Tänze hat er bekanntlich auch gemalt und darüber gedichtet. Er spielte Schlagzeug in einer Jazz-Band, führte mit Musikern Stücke für Sprechstimme und Querflöte oder Schlagzeug auf und schrieb Libretti zu Balletten. Der Verfasser dieses Newsletters kann leider nicht beurteilen, ob und inwieweit die Musik von Ludwig van Beethoven zum Grass’schen Musik-Portfolio gehörte. Immerhin, er widmete Beethoven eine Passage in seiner „Blechtrommel“ und seiner Beschreibung der Familie Matzerath:„Sonst änderte sich nicht viel. Über dem Piano wurde das Bild des finsteren Beethoven … vom Nagel genommen und am selben Nagel der ähnlich finster blickende Hitler zur Ansicht gebracht. Matzerath, der für ernste Musik nichts übrig hatte, wollte den fast tauben Musiker ganz und gar verbannen. Mama jedoch, die die langsamen Sätze der Beethovenschen Sonaten sehr liebte, … bestand darauf, dass der Beethoven, wenn nicht über der Chaiselongue, dann übers Büfett käme. So kam es zu jener finstersten aller Konfrontationen: Hitler und das Genie hingen sich gegenüber, blickten sich an, durchschauten sich und konnten dennoch einander nicht froh werden.“ Eine verstörende Welt: der große Beethoven mit seinem Lied an die Freude und die Humanität vis á vis des menschenverachtenden Fanatikers und Kriegstreibers.

 

Grass‘ Wörter

FRÜH GELERNT (4. Strophe)

Beim Schieber, da gibts nichts  
zu lachen zu weinen:  
nicht traurig, nicht heiter,   
in Schönheit stirbt niemand,   
kein Hüpfer hebt ab. 
Der Herr drängt die Dame,  
fast fällt sie, er hält sie.
Sein Knie trifft ihr Glück.  

Aus: „Letzte Tänze“ (2003)
Ein weites Feld – damit endet der Fontane-Roman „Effi Briest“;
es ist gleichzeitig Beginn beziehungsweise Titel eines Grass-Romans von 1995.
Im Tanzschritt: Ute und Günter Grass

Ein Traum von Theodor Fontane Ludwig van Beethoven, sein 250. Geburtstag wird das Kulturjahr 2020 bestimmen. Das kommende Jubiläumsjahr löst das jetzige zu Ehren Theodor Fontanes ab. Und zu diesem und seinem Werk hatte Günter Grass eine durchaus enge Beziehung. Er berichtete darin in „Mein Jahrhundert“, in diesem Fall 1987, als er mit seiner Frau Ute in Calcutta weilte. Im Gepäck auch etliche Bücher von Fontane. „Einige seiner Werke waren mir als verspätete Lektüre erinnerlich: Effi auf der Schaukel, Ruderpartien auf der Havel, Spaziergänge mit Frau Jenny Treibel am Halensee, Sommerfrischen im Harz. Doch Ute kannte alles. … Sogar bei anhaltenden Stromsperren und unter schweigendem Ventilator las sie, während Calcutta im Dunkel versank, bei Kerzenlicht nochmals die ‚Kinderjahre‘ und flüchtete sich … auf Swinemündes Bollwerk oder lief mir auf Hinterpommerns Ostseestränden davon.“ Grass erzählte von einem (Alb)traum unterm Moskitonetz, ein Mann darin, „mit dem Ute plaudernd unterm Birnbaum saß“, „ein weißhaariger Herr, mit dem sie plauderte, plauderte und dabei schöner und schöner wurde.“ Es muss wohl Theodor Fontane gewesen sein. Ute „bändelte mit ihm an“. Da war Obacht angesagt. Schließlich war Fontane nicht nur ein Großmeister des Plauderns, sondern ein im Realismus verhafteter Dichter, der die Gesellschaft zu analysieren verstand und erst mit 60 Jahren begann, seine bedeutenden Romane zu Papier zu bringen. Auffallend: Er liebte es, darin immer wieder den Ehebruch zu problematisieren. Günter Grass: „Deshalb träumte ich mich nun eifersüchtig.“ Und dann: „Klugheit oder Schläue gebot mir im Traum, aufkommende Eifersucht verdeckt zu halten, weise und listig zu handeln, … mit ihm treppab zu steigen und mich im Garten unter dem angenehm kühlen Schatten des Birnbaums zu dem Traumpaar, zu Ute und ihrem Fontane, zu setzen. Fortan – und das sage ich immer, wenn ich diesen Traum erzähle – führten wir eine Ehe zu dritt.“

Schließlich entstand bei Grass der Wunsch, einen Berlin-Roman zu schreiben und sich daneben mit der schwierigen Existenz Fontanes auseinanderzusetzen. „Indem ich aus all den vielen Fontane-Fans, die bisweilen auch etwas Schrulliges haben, eine einzige Figur mache, ist mir Theo Wuttke, den alle Fonty nannten, in den Sinn gekommen. In den Spiegelungen Fontys konnte ich dann alle Facetten Fontanes sichtbar machen.“ Grass schilderte das in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 7. Oktober 1995. Fonty ist die Hauptfigur im großen Grass-Roman „Ein weites Feld“, der 1995 erschien und gleichzeitig ein Panorama deutscher Geschichte zwischen der Märzrevolution 1848, der Wendezeit und der deutschen Wiedervereinigung bildet. Günter Grass konnte jedenfalls wieder beruhigt schlafen. „Seitdem (Fontane) – gefangen in dem Roman ‚Ein weites Feld‘ – seiner Unsterblichkeit lebt, gelingt es ihm nicht mehr, meine Träume zu beschweren, zumal er als Fonty gegen Schluss der Geschichte, verführt von einem jungen Ding, in den Cevennen und bei den letzten dort überlebenden Hugenotten untergetaucht ist …“ An diesem 30. Dezember jährt sich der Geburtstag von Theodor Fontane zum 200. Mal.

Grass und andere Autoren auf Vimeo 

Tipp

Noch bis zum 5. Januar 2020 können in der Fontane-Stadt Neuruppin graphische Werke von Günter Grass betrachtet werden. „Weite Felder“ heißt die Ausstellung in der Galerie für Gegenwartskunst. Zu sehen sind Lithographien und Radierungen zu verschiedenen literarischen Werken. Die Präsentation entstand in Kooperation mit der Lübecker Günter und Ute Grass Stiftung. Weitere Informationen: http://www.kunstraum-neuruppin.de/

In eigener Sache

Wir haben Grund für eine Entschuldigung. In unserem 8. Newsletter berichteten wir über Schüler*innen aus Vegesack, die sich 1963 zu einer Klassenfahrt in – damals – Westberlin aufhielten und ein Interview mit Günter Grass in seiner damaligen Wohnung, die wir in der Niedstraße verortet hatten, erhielten. Dazu bemerkt unser Kuratoriumsmitglied Bruno Grass: „Vielen Dank für die regelmäßigen Newsletters. Ich freue mich jedes Mal. Meine Mutter Anna Grass ist gerade bei mir zu Besuch und ich zeigte ihr den Schreibtisch aus gemeinsamen Pariser Tagen und sie freute sich, ihn wiedersehen zu können. Eine Korrektur gebe es jedoch noch zu den Schülerfotos meines Vaters. 1963 lebte meine Familie – noch ohne mich – definitiv noch nicht in der Niedstraße 13 in Friedenau, sondern in der Karlsbader Straße am Roseneck – auch die Fotos mit den Türen im Hintergrund bestätigen das. Das also nur kurz zur Vollständigkeit. Aber die Fotos sind wirklich toll!“ Wir berichtigen das gerne!

Verehrte Leserinnen und Leser, dies ist der letzte Newsletter in bisheriger Form. Unser Anliegen war es, den großen Günter Grass und seinen Nachlass im Abenteuer der geschriebenen, aber auch in Ton und Film überlieferten Literatur populär und mit eindeutiger Sympathie für die Lebensleistung des Literaturnobelpreisträgers erfahrbar zu machen. Der wissenschaftliche Ansatz, den die Günter Grass Stiftung Bremen seit Gründung verfolgt, ist in unserem Medienarchiv an der Jacobs University in Bremen nachvollziehbar, nicht aber zwangsläufig in diesem Newsletter. Der sollte – durchaus auch unter Berücksichtigung der vielfältigen Literatur- und Expertenkritik – vor allem unsere Wertschätzung für das kulturelle und kommunikative Multitalent Grass ausdrücken. Wie geht es weiter? Mal sehen! Auf alle Fälle werden Sie über ein von uns schon vorbereitetes Ereignis informiert: Am 13. April 2020, zum fünften Todestag von Günter Grass, wird unsere Stiftung an der Pariser „Blechtrommel“-Wohnung von Günter Grass, die er mit seiner damaligen Frau Anna bewohnte, eine Plakette aus Marmor anfertigen und anbringen lassen. Eine Angelegenheit des Erinnerns und des Herzens.
Ich wünsche Ihnen allen ein friedliches und fröhliches 2020. Wir betreten eine neue Dekade; mögen es – wenn nicht goldene – so doch gute 20er sein!

Ihr Horst Monsees