Herbst-Journal 2020


Trommelwirbel

Herbst-Journal 2020 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Verehrte, liebe Literaturfreunde,

Herbstzeit ist Lesezeit. Das Buch hat es in Zeiten von Corona nicht leicht gehabt. Während des Shutdowns im Frühjahr mussten auch die Buchhandlungen schließen, was zu Einbußen führte, aber auch frische Energien bei Autoren, Verlagen und Händlern freisetzte. Die Pandemie ist längst nicht überwunden, aber das Buch hat sich wieder fest in der Gesellschaft verankert, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels betont. Welch ein Glück, denn Lesen ist Vergnügen, geistige Nahrung und Spaziergang durch andere Welten – ob reale, vergangene oder fantastische. 

Wenn ich diesen Newsletter nicht auf einer Tastatur schreiben müsste, sondern mit einem meiner Lieblingsbleistifte, könnte ich darauf ein Zitat von Sydney Smith entziffern: „Es gibt keine schöneren Möbel als Bücher.“ Und darin dann all die „Wörter auf Abruf“, wie Günter Grass der Bleistiftproduktion zulieferte.

Der Steidl Verlag hat gerade eine neue Werkedition des Literaturnobelpreisträgers herausgebracht. Sie enthält sämtliche von Grass autorisierten Schriften von den Anfängen bis zu dem posthum erschienenen Band „Vonne Endlichkait“. Die gesamten lyrischen, dramatischen, epischen und essayistischen Werke wurden neu gesetzt, die Text noch einmal mit den Erstausgaben verglichen, Orthografie und Zeichensetzung den Standards der vom Autor bevorzugten alten deutschen Rechtschreibung angeglichen und Fehler bis 2015 korrigiert. Professor Harro Zimmermann, der erst kürzlich ins Kuratorium unserer Stiftung gewählt wurde, hat die opulente Ausgabe in der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. Oktober 2020 rezensiert. Seinen profunden Artikel können Sie sich hier zu Gemüte führen:   https://mcusercontent.com/fae411c88c2818cfbd43d9342/files/9c1a3c95-6393-4e30-bd2d-1a367bbeb0fc/Grass_Edition.pdf Es lohnt sich.

Wenn ich nun den Namen Katja Ebstein erwähne, werden Sie sich womöglich fragen, was die Sängerin und Schauspielerin in einem Newsletter der Günter Grass Stiftung Bremen zu suchen hat. Die Künstlerin besang eben nicht nur Wunder (gibt es immer wieder), sondern machte in früheren Zeiten Wahlkampf insbesondere für Willy Brandt und ist bis heute regelmäßig und engagiert für die Wohltätigkeit unterwegs. Mit Grass tauschte sie Gedanken aus und genoss anschließend die „lustige Tänzerei“ mit ihm. Jetzt hat Katja Ebstein ihre Autobiografie veröffentlicht: „Das ganze Leben ist Begegnung“ – unser aktueller Buchtipp für Sie. 

Man liest auch zum Vergnügen; möge Ihnen dieses Journal ein bisschen von diesem Gefühl vermitteln, das Corona gerne mal unter die Räder kommen lässt.

Ihr
Horst Monsees

Bei windigem Wetter 

hängt meine Jacke an der Leine.
Sie dünstet aus, 
nimmt Abstand von mir 
und ist mit leeren Taschen
zeitweilig frei von meinem

Gekrümel

Aus: “Fundsachen für Nichtleser” (1997)

Celan & Grass bleiben länger online

In diesem November, und zwar am 23., jährt sich der Geburtstag des Lyrikers Paul Celan zum 100. Mal. Anlass genug, um unsere virtuelle Ausstellung über die Freundschaft zwischen Celan und Grass in der Grass Galerie Digital zu verlängern. Denn Corona hat uns leider einen Strich durch unsere Planungen gemacht, die Bilder, Briefe, Audio- und Video-Dokumente auch physisch und erweitert in unseren neuen Räumen zu zeigen. Unser Trost: Die Präsentation im Netz wird positiver als erwartet aufgenommen; wir registrieren sogar eine stattliche Zahl von Nutzer*innen aus der Schweiz, Großbritannien, USA, Norwegen und Rumänien. Wir sehen darin Ermutigung und Verpflichtung, die Zugangswege für die Besucher*innen zu verbessern und zu verbreitern.

http://www.grassgaleriedigital.de/

Ende gut, alles gut? Ein paar Tonprobleme gab es dann leider doch, als die Günter Grass Stiftung Bremen ihren ersten Live-Stream produzierte und ihn mit einem Rundgang durch die virtuelle Ausstellung “Ich bin nicht unversöhnlich, Günter” verband. Es wird schon schief gehen – so kam es dann auch: Zufriedenheit bei allen Beteiligten. Beeindruckend waren die Lesungen der Schauspielerin Franziska Mencz, kurzweilig und doch lehrreich mit Tiefgang die Kommentare des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Emmerich. Bis zum Schluss blieb es spannend, als Mencz auf Bitten von Emmerich aus dem Celan-Gedicht “Einem, der vor der Tür stand” rezitierte. Verstörende Zeilen über “Kielkropf”, “kotige Stiefel des Kriegsknechts” und “schilpenden Menschlein”. Die Literaturwissenschaft sieht darin eine Reaktion des traumatisierten Celan auf Plagiatsvorwürfe und vermeintlich falsche Freunde. In einem ersten Manuskript zum Gedicht war noch eine Kopfzeile “Que sont mes amis devenus?” enthalten, die später wieder verschwand. Emmerich erinnerte an eine Celan-Edition, in der verschiedene Fassungen des Gedichts gesammelt sind – auf einer steht “für G.G.” Das könne, so Emmerich, kein anderer als Grass sein. 
Die Veranstaltung “Mal herzlich, mal herzgrau” ist nachzusehen und -hören auf 

http://www.literaturerleben.de/

Aus dem Medienarchiv 

Vor 65 Jahren: Günter Grass erhält den renommierten Büchnerpreis und verbindet seine Dankesrede mit einem Appell an die Schriftstellerkollegen*innen: Mischt Euch ein in die Politik, aber an der richtigen Stelle! Seine Äußerungen wurden von vielen – auch außerhalb des Festsaals – als Provokation empfunden. Der Ausschnitt ist Teil des Fernsehbeitrags “Büchner und kein Ende” (Hessischer Rundfunk hr, 2005)

Buchtipp

Katja Ebstein, die große Persönlichkeit aus der deutschen Kunst- und Kulturszene, erzählt von bedeutenden Begegnungen in ihrem Leben, die sie nachhaltig geprägt haben. Sie beschreibt, wie ihre Eltern ihr Musikalität, Gerechtigkeits- und Freiheitssinn mit auf den Weg gegeben haben und wie Willy Brandt zu ihrem politischen Lehrer wurde. Aber nicht nur Menschen, auch Orte prägen ein Leben. Bei Katja Ebstein ist es die Liebe zur Insel Amrum und zur Weltstadt Berlin. Nach all ihren Erlebnissen und Begegnungen will sie weder Ikone noch Legende sein: “Ich betrachte mich als individuellen, toleranten Normalbürger mit Haltung und Meinung, konfrontiert mit den Herausforderungen und Aufgaben des Alltags – wie der Rest der arbeitenden Bevölkerung auch.” Die Autobiografie der Sängerin und Schauspielerin ist bei FISCHER Krüger erschienen, die 250 Seiten kosten 20 Euro.

Demnächst

—   “Ein kurzes Erschrecken, die Wahrnehmung: etwas Unglaubliches geschieht.” Mit diesem Zitat drückte Günter Grass die Erinnerung an den spontanen Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos aus. Dieser historische Einschnitt in den Ost-West-Beziehungen, verbunden mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, jährt sich am 7. Dezember 2020 zum 50. Mal. Grass und Siegfried Lenz begleiteten Brandt damals auf der Polen-Reise. Ab 6. Dezember werden wir mit Lesungen und Videos das Ereignis würdigen, auf http://www.literaturerleben.de
—   In Kürze wird sich das Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen mit einer neuen Webseite präsentieren – einem virtuellen Dach für alle Aktivitäten der Stiftung und besonders mit einem bedienungsfreundlicheren Zugang zum Medienarchiv. 
—  Die Stiftung stellt sich auch personell neu auf. Über Veränderungen in Kuratorium, Vorstand, Geschäftsleitung und ein bisschen mehr berichten wir in der nächsten Ausgabe.