Frühjahrs-Journal 2021


Trommelwirbel

Frühjahrs-Journal 2021 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Verehrte, liebe Literaturfreunde,

Friedrich Hölderlin wie auch Günter Grass haben die politischen Zustände und ihre Befindlichkeiten in Deutschland häufig thematisiert. Hölderlin etwa in der Ode “Der Tod fürs Vaterland”, die lange Zeit missverstanden und von den Nazis für ihre schändlichen Zwecke missbraucht wurde, Grass beispielsweise in dem 2012 erschienenen Gedicht “Europas Schande”, in dem er auch auf die deutsche Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg anspielt: “Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister.”
Hölderlin – an diesem ersten Frühlingswochenende, nämlich am Tag des kalendarischen Frühlingsanfangs (20. März), jährt sich zum 251. Mal der Geburtstag des großen deutschen Dichters. Von Erich Fried heißt es, er habe immer Hölderlin gelesen, wenn er krank war, was häufiger vorkam. Fried, über die Lyrik mit Hölderlin und Grass verbunden und gleichfalls ein kritischer Beobachter deutscher Politik, wäre in diesem Jahr (6. Mai) 100 Jahre alt geworden. Die Grass Galerie Digital widmet dem in Wien geborenen und in Baden-Baden gestorbenen Schriftsteller demnächst eine bunte Ausstellung.

Und Hölderlin? Das Deutsche Literaturarchiv Marbach zeigt in seinem Literaturmuseum der Moderne noch bis zum 1. August “Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie”. Die bemerkenswerte Ausstellung – zum 250. Geburtstag des Dichters konzipiert – geht nicht nur Fragen nach: Wie liest man Hölderlins Gedichte im Manuskript? Was bleibt von den Sprachen der Poesie im Archiv? Es werden auch Hölderlin-Erfahrungen anderer Schriftsteller*innen geschildert – von Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse über Hannah Arendt und Ingeborg Bachmann bis Paul Celan und Robert Gernhardt.

Lassen wir uns an dieser Stelle mit Hölderlin in den Frühling treiben. Das nachfolgende Gedicht stammt aus der Zeit, als er mit Scardanelli seine Verse und Briefe zeichnete.

Man liest auch zum Vergnügen; möge Ihnen dieses Journal ein bisschen von diesem Gefühl vermitteln, das Corona gerne mal unter die Räder kommen lässt.

Ihr
Horst Monsees

 

Grass durch die Blume

„Die Wut fiel in Ohnmacht:
ohnmächtige Wut.
Ich spreche vom Protestgedicht 
und gegen das Protestgedicht. 

Aufrüstung öffnet Märkte
für Antikriegsgedichte.
Die Herstellungskosten sind gering.
Man nehme: ein Achtel gerechten Zorn, zwei Achtel alltäglichen Ärger und
fünf Achtel, damit sie vorschmeckt, ohnmächtige Wut.”

Günter Grass, aus “Irgendwas machen”

Der Frühling

Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, 
Es wundert sich der Mensch, und neue Worte streben 
Aus Geistigkeit, die Freude kehret wieder 
Und festlich machen sich Gesang und Lieder. 
Das Leben findet sich aus Harmonie der Zeiten, 
Daß immerdar den Sinn Natur und Geist geleiten, 
Und die Vollkommenheit ist Eines in dem Geiste, 
So findet vieles sich, und aus Natur das Meiste. 

“Ich will mich nicht gewöhnen”  

Erich Fried emigrierte als 17-jähriger nach England. Er, der sich immer als deutscher Dichter verstand, ließ im Londoner Exil seinen ersten, antifaschistischen Gedichtband veröffentlichen: “Deutschland”. Seine kritischen Kommentare und Stellungnahmen zu Nachkriegsgesellschaft und Politik sorgten schon bald für heftige Kontroversen. Seine Verse, häufig Anklagen, beunruhigten, rüttelten auf, fanden insbesondere in der jüngeren, der rebellischen Generation wie den 68-ern großen Anklang. Aber Erich Fried hatte viele Facetten, als exzellenter Shakespeare-Übersetzer, als Komiker und vor allem mit seinen berühmten Liebesgedichten, die ihn zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Lyriker machten. “Ich soll mich nicht gewöhnen.” Dieses Zitat, gleichzeitig Titel der Ausstellung, stammt aus seiner Dankesrede zum Bremer Literaturpreis, der Erich Fried 1983 verliehen wurde. Es ist gleichzeitig eine Zeile aus einem seiner vielen Gedichte. 

http://www.grassgaleriedigital.de/ 

Erich Fried – ein Klassiker, dessen Werke erstaunlich zeitgemäß geblieben sind, ein vielseitiger Autor, den es neu zu entdecken gilt. Die virtuelle Ausstellung, die am 25. April 2021 für zwei Monate in der Grass Galerie Digital eröffnet wird, zeigt Fried in Fotografien, als Person und Familienvater, von seiner Ehefrau Catherine Boswell beschrieben. In der dreidimensionalen Galerie können die Besucher*innen zudem an Hör- und Videostationen Fried beim Vorlesen seiner Gedichte oder im politischen Meinungsstreit erleben. Die Ausstellung befasst sich auch mit dem Verhältnis des Dichters zur Freien Hansestadt Bremen. Fried fand hier ähnlich wie Günter Grass viel Freundliches und gute Gründe, immer wieder zurückzukehren. Allerdings stieß er auch vielfach auf Unverständnis, Ablehnung und Anfeindungen. Nun, gefällig wollte Fried nie sein, sondern widerstandsfähig, widerständig: „Denn wenn ich mich gewöhne, verrate ich die, die sich nicht gewöhnen.” 

Erich Fried mit sechs Jahren und im fortgeschrittenen Alter. Mit seinen politischen Versen, aber auch mit seinen Liebesgedichten erreichte er in vielen Ländern und an vielen Orten eine große Anhängerschar – egal, ob in seinem Garten oder auf Bühnen in Sälen und Auditorien. 
                                                                            © Catherine Fried / Archiv Klaus Wagenbach, Berlin
                                                                            © Günter Zint

Erich Fried: Herrschaftsfreiheit
Zu sagen
“Hier
herrscht Freiheit”
ist immer
ein Irrtum
oder auch
eine Lüge:
Freiheit
herrscht nicht

Catherine Boswell Fried
(war 23 Jahre mit Fried verheiratet)

„Sogar am Tag unserer Hochzeit schlief (Erich) ein, als ich mit ihm direkt vom Standesamt in Buster Keatons Der General ging. Außerdem gestand er mir, den Film nicht gemocht zu haben, was ich als böses Omen für unsere Ehe nahm.“

Aus: “Über kurz oder lang –
Erinnerungen an Erich Fried”
Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 2008
© Günter Zint

Warten auf neue (alte) Wirklichkeit

In den neuen Räumen der Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen  werden die Vorbereitungen für neue Realitäten oder – besser – wiedergewonnene Freiheiten vorbereitet. Es wächst der Wunsch, möglichst noch in diesem Jahr eine Ausstellung mit wirklich vorhandenen Exponaten im dritten Stock der Stephanikirchenweide 8 zu organisieren. Die Flure sind bereits mit Galerieleisten ausgestattet, die Schnüre mit Hängevorrichtungen werden gerade gesichtet und sortiert. Ideen für eine Präsentation gibt es bereits, aber dazu zu einem späteren Zeitpunkt mehr.  

Gesten und Symbole 

In der neuen Ausgabe der von Basil Kerski herausgegebenen, zweisprachigen Publikation “Dialog – Deutsch-Polnisches Magazin” erinnert sich der bekannte polnische Historiker und Politiker Donald Tusk an Begegnungen mit Günter Grass: “Er sprach von der Macht der Geste, der Bedeutung des Symbolischen in der Politik, über die Überschreitung von Grenzen politischer Routine. Er bezog sich auch auf (Willy) Brandts Kniefall vor dem Denkmal in Warschau. Was mir auf jeden Fall im Gedächtnis blieb, ist folgender Satz des ‘Blechtrommel’-Autors: 

‘Denkt immer daran’, sagte er, ‘eine einzige, starke und mutige Geste kann politische Entwicklungen manchmal um Jahre oder sogar Jahrzehnte beschleunigen.’ 
Als Grass zugab, als Freiwilliger in der Waffen-SS gedient zu haben, begann in Polen eine Diskussion, ob man ihm jetzt nicht die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig aberkennen müsste. Dem damaligen Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz war die Zweischneidigkeit der Situation vollkommen klar – wir haben darüber lange Gespräche geführt. Er wusste, egal wie er entscheidet, es würde von hoher symbolischer Bedeutung sein. Und es würde kritisiert werden. Er rang sich schließlich zu einer kontroversen Entscheidung durch, die verständliche Emotionen weckte: die Aufrechterhaltung der Ehrenbürgerschaft. Ich weiß noch genau, wie glücklich er war, als sich herausstellte, dass die klare Mehrheit der Danziger auf seiner Seite stand. Einige Jahre später wurde er dann selbst eine Symbolfigur in äußerst tragischem Sinne: Er starb durch Messerstiche …, als Opfer organisierter Hasspropaganda.”

Aus dem Medienarchiv

1968 wollte die Gruppe 47 auf Schloss Dobris bei Prag tagen. Der Plan wurde vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts durchkreuzt. Fortan fanden keine regelmäßigen Treffen mehr statt. 1990 wurde quasi in einem Akt von Nostalgie die ausgefallene Tagung bei Prag nachgeholt: in einer nun freien tschechischen, damals noch tschechoslowakischen Republik. Günter Grass las aus dem Nachwort seines neuen Buches “Totes Holz” vor; der Kritiker Fritz J. Raddatz bewertete das Gehörte.

Lesetipps

Zwei Wissenschaftler und Autoren, die dem Kuratorium der Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen angehören, haben sehr lesenswerte Bücher veröffentlicht. Jochen Hörischs Leitmotiv für sein Werk: Unser Zeitalter der Digitalisierung führt zu einer “Handvergessenheit”. Dabei ist – oder war? – die Hand so viel mehr als Werkzeug. Darüber schrieb schon viel und gerne der große Goethe. Hände sind vielseitig, intelligent, gehören zu den fünf Sinnen des Menschen – sie können töten, aber auch lieben. Höchste Zeit, sich das kluge und facettenreiche Buch von Hörisch zu Gemüte zu führen und sich die Bedeutung der Hände-Arbeit wieder bewusst zu machen.
Jan Bürger schickt die Leser*innen auf eine große Entdeckungsreise durch eine der auf- und anregendsten Großstädte Deutschlands. Der Autor erkundet die alten und neuen Viertel der Metropole und erzählt vom kulturellen Reichtum, den die Einheimischen gerne übersehen oder nicht viel Aufhebens davon machen, hanseatisch zurückhaltend eben. Die Ökonomie, das Praktische, das Nützliche, so Bürger, standen den Hamburgern stets näher als das Geistige oder gar Geistliche. Den gotischen Mariendom rissen sie 1804 ab. In dem Buch werden die kulturellen Schätze der Hansestadt aufgespürt, freigelegt und geordnet – der Beat ebenso wie die Elbphilharmonie, Carl Philipp Bach und Jahnn, Lessing und Lenz, Klopstock und Rühmkorf. Eine eindrückliche und spannende Spurensuche.