Herbst-Journal 2021


Trommelwirbel

Herbst-Journal 2021 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Verehrte, liebe Literaturfreunde, 

das obige Gedicht ist eines der kürzesten, das Günter Grass geschrieben hat. Augenblicke von Glück – nach getaner Arbeit in Erwartung von Feierabend, Ruhe und vielleicht ein wenig Genuss: eine Umarmung, ein Kuss, ein Glas Wein vor dem Schlafengehen. Das Gedicht entstand am Anfang der großen Karriere von Grass, als er 1956 mit seiner Frau Anna Berlin verließ und nach Paris zog – “mittellos, aber unbekümmert”. Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es. Günter Grass formulierte es auf seine Weise: “Im Gepäck gestauter Stoff, ungenaue Vorgaben und präziser Ehrgeiz”. In seiner Pariser Zeit schrieb er “Die Blechtrommel”, die seinen Weltruhm begründen sollte. Glück gehabt? Es steckte viel mehr dahinter, mehr Grass als Glück. Nach einer Lesung aus dem Manuskript erhielt er 1958 den Preis der Gruppe 47, da war der Erstlingsroman noch gar nicht erschienen. Für Grass ein Tag des Glücks. 

Glück ist kein Dauerzustand, manchmal sogar sehr flatterhaft. Im Glück kann man sich nicht einrichten, aber schöne Momente und Emotionen wahrnehmen. In späteren Jahren hat Grass Glück im Tanzen mit seiner Frau Ute gefunden und durch seinen gelungenen Kopfstand, mit dem er an besonderen Geburtstagen die Familie überraschte. In seinem Gedicht “Nach Mitternacht” heißt es am Ende:

“Liebste, nur wenige Takte,
bevor du mich und dich –
wie immer um diese Zeit –
mit Tabletten versorgst: einzelne
und gezählte.”

Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff hat jetzt einen “Bericht zur Lage des Glücks” vorgelegt, in dem die Gratwanderung zwischen Glück und Unglück wunderbar geschildert wird. Ein Zitat aus dem neuen Roman: “Es gibt kein Glück ohne Selbstvergessenheit, meine ich, und vielleicht sind wir auch daran gescheitert, dass wir nie aufgehört haben zu denken, ja vorauszudenken, wo und wann wir auf welche Art glücklich sein könnten, und wenn es dann so weit oder fast so weit war, haben wir schon wieder Glückspläne geschmiedet. Aber glückliche Paare denken nicht voraus, sie denken meist gar nicht, wozu auch.” Wenn Sie mehr hören wollen von einem, der auszieht, das eigene Unglück abzuschütteln, besuchen Sie unsere Veranstaltung mit Bodo Kirchhoff am 18. Oktober im Bremer Rathaus. Sie können sogar ein vom Autor signiertes Buch oder Plakat gewinnen – mit etwas Glück! 

 

Grass’ Wörter

Ein leerer Autobus 
stürzt durch die ausgesternte Nacht. 
Vielleicht singt sein Chauffeur 
und ist glücklich dabei. 

 

“Glück” aus Gedichtband “Gleisdreieck” (1960)

Wächterin des freien Wortes

In diesem Oktober vor 100 Jahren gründete sich in London eine Schriftstellervereinigung, die schnell unter dem Kürzel PEN (Poets, Essayists, Novelists) bekannt wurde. 1924 etablierte sich die deutsche Sektion, die sich in den folgenden Jahrzehnten nach Uneinigkeiten und Spaltungen immer wieder neu zusammenfinden musste. Günter Grass hat viele der Auseinandersetzungen als Mitglied und Ehrenmitglied miterlebt, und er scheute sie nicht, auch nicht die zwischen Ost und West nach der Wiedervereinigung. Als Literaturnobelpreisträger und engagierter Intellektueller fand er weltweit Gehör. So im Mai 2000, als er vor dem Internationalen PEN-Kongress in Moskau die Eröffnungsrede hielt und die russische Regierung heftig kritisierte: “Wir begegnen einander in einem Land, in dem die Großmacht Russland gegen das kleine Volk der Tschetschenen Krieg führt. Und das geschieht zum wiederholten Mal, ohne Einsehen, ohne Erbarmen. Wir müssen ein Ende des Krieges fordern.” Grass äußerte sich zur gesellschaftspolitischen Rolle der Literatur: “Das immerhin leistet die Literatur: Sie schaut nicht weg, sie vergisst nicht, sie bricht das Schweigen.”

Johano Strasser (links oben) war über viele Jahre Generalsekretär und anschließend Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Hier mit Alexandra Sporer, sitzend, Schriftsteller Benjamin Lebert, Günter Grass, Politikerin Stephanie Jung, Schriftsteller Michael Kumpfmüller und Tilmann Spengler im Münchener Wirtshaus Schlachthof. (Imago / Stefan M Prager)

PEN versteht sich als “Anwalt des freien Wortes”. In dieser Funktion steht er heutzutage, da in vielen Ländern Repressionen zunehmen, Wahrheiten verdreht oder gefälscht werden, vor großen Aufgaben. Willy Brandt, zu dem Grass enge Kontakte pflegte, sagte 1970 vor den Vereinten Nationen: “Gute Politik braucht die Literatur als sprachliches Korrektiv. Je enger der Kontakt zwischen Literatur und Politik, umso besser ist das Sprachbewusstsein.”

Das Treffen in Telgte

Vor wenigen Tagen hatte die Günter Grass Stiftung den Autor und Literaturkritiker Helmut Böttiger zu Gast. Er las dem Publikum aus seinem neuen Buch vor: “Die Jahre der wahren Empfindung”. Darin schildert er die 70er Jahre als “wilde Blütezeit” der deutschen Literatur, eine Epoche von 1968 bis 1981/82. Ein Kapitel widmet Böttiger Heinrich Böll und Günter Grass. Grass sei bereits in den siebziger Jahren weitaus mehr als ein bloßer Schriftsteller, er sei eine Projektionsfläche und eine Reizfigur gewesen. “Das änderte aber nichts daran, dass er 1979 eines der schönsten Bücher dieses Jahrzehnts überhaupt veröffentlichte.” Fulminant der erste Satz: “Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.” Gemeint ist die Erzählung “Das Treffen in Telgte”, die ein fiktives Autorentreffen, geschichtliche Zeitbrüche beginnend im Barock und die Kraft der Sprache behandelt. Helmut Böttiger: “In der Doppelbelichtung der Jahre 1647 und 1947 gelingt (Grass) ein Blick auf das literarische Treiben, der das Tragische und Komische in völlig unerwarteten Knoten und Schürzungen miteinander verbindet. Über dem ‘Treffen in Telgte’ liegt ein kleiner Hauch von Ewigkeit, und Grass hat damit im Jahr 1979, als am Horizont schon wieder ganz neue und andere Umrisse des Literaturbetriebs zu erkennen waren, einen Moment außerhalb der gängigen Zeitläufte erhascht.” Übrigens: Einen Beitrag zu der Veranstaltung mit Helmut Böttiger finden Sie demnächst auf https://literaturerleben.de


Neuigkeiten aus Stiftung und Archiv: 

„Das Unrecht beim Namen nennen“ – so heißt das erste Video-Projekt des Medienarchivs in Kooperation mit der FernUni Hagen. Deren Student und unser Praktikant Ben Dittmann hat es produziert. Anlässlich des 60. Jahrestages des Mauerbaus erzählt er eine deutsch-deutsche Geschichte, die Günter Grass literarisch verarbeitete. Der Beitrag ist auf https://literaturerleben.de/ anzusehen und wurde auf Youtube bereits über 8100 Mal aufgerufen, was Ben Dittmann glücklich machte. Die Zusammenarbeit mit der FernUni Hagen steht unter einem guten Stern. Neben Praktika, möglicherweise Dissertationen und gemeinsamen digitalen Ausstellungen sind auch wissenschaftliche Tagungen und Workshops zum Thema digitale Kulturen denkbar. 
Prof. Heiko Staroßom hat sein Vorstandsmandat zum 30. September 2021 aus persönlichen Gründen niedergelegt. Als eine seiner letzten Aufgaben hatte Herr Staroßom die Kooperation der Stiftung mit dem Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der FernUniversität Hagen erfolgreich auf den Weg gebracht, die als zukunftsweisend für das audiovisuelle, digitale Medienarchiv gilt. Die Stiftung ist Herrn Staroßom zu großem Dank verpflichtet.