Winter-Journal 2021


Trommelwirbel

Winter-Journal 2021 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Verehrte, liebe Literaturfreunde, 

fühlen Sie sich auch gerade wie aus der Zeit gefallen, aufgefangen in einem Beinahe-Stillstand? Die Pandemie mag da als Verstärker dienen, aber schon lange vor Corona war das Phänomen des stillen “Zwischen den Jahren” immer wieder spürbar. Selten zieht uns der Müßiggang so umfassend in seinen Bann wie zwischen Weihnachten und Neujahr – bis zum 6. Januar. Das Innehalten hat Tradition, beziehungsweise ist seit Jahrhunderten Brauch, entstanden aus der Erkenntnis, dass das Mondjahr nur 354 Tage hat, der Kalender allerdings 365; elf Tage verflüchtigten sich. Die Differenz, die uns Mond und Sonne (und die unterschiedlichen astrologischen und christlichen Festlegungen des Jahreswechsels) bescheren, muss die Menschen seit Gedenken beunruhigt und zu allerlei Aberglauben beigetragen haben. Die sagenhaften Rauh- oder auch Rauchnächte, in denen uns vermeintlich Geister und Dämonen aus einer anderen Welt heimsuchen, werden heute noch in manchen Gegenden Deutschlands mit leichtem Gruseln beachtet. Um die Außerirdischen ja nicht zu reizen, ziehen sich die Erdenbürgerinnen und auch die Erdenbürger leise zurück und tun lieber nix. 
Also bitte: Dieser Tage keine Wäsche aufhängen – schon gar nicht draußen – und die Steuererklärung liegen lassen. Viele Geschäfte und Firmen wurden eh geschlossen – vorsorglich, um Scheußliches und Schauriges auszuräuchern, das Alte zu verabschieden und etwas Neues anfangen zu lassen. Zwei Dinge freilich trotzen dem Spuk: das Lesen und die Phantasie. Deshalb ist dieser Newsletter keineswegs zufällig zwischen den Jahren, in der Zeitlosigkeit mit viel Zeit entstanden: sondern aus Wertschätzung für die Literatur und das Buch, das Sie, die Büchernarren, jetzt ausgiebig zur Hand nehmen und aufschlagen mögen. 
Übrigens: Vielleserinnen und auch entsprechende Leser hätte man früher vielleicht Leseratten genannt, eine abfällige Definition und deshalb zu Recht aus der Zeit gefallen. Aber das Tier sollte uns noch einen Augenblick beschäftigen. Günter Grass betitelte einen seiner Romane “Die Rättin”. Dabei handelt es sich um eine apokalyptische Vision über Menschheit oder besser deren Untergang. Das Schauspiel Leipzig setzte das Werk in einer Bühnenfassung auf seinen Spielplan dieser Saison. Nach der Premiere erkannte die Süddeutsche Zeitung “eine späte Anerkennung von Grass’ Weitsicht” und fragte: War Grass doch ein Prophet? 

Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir,
hoffte ich doch auf Reizwörter für ein Gedicht,
das von der Erziehung des Menschengeschlechts handelt. 

Es empfiehlt sich, “Die Rättin” weiterzulesen! 

 

Grass’ Wörter

Zwar liegt kein Handy zwischen Brille, Tabak und Pfeife, niemand darf mich mit Fingerzeig lehren zu surfen, zu googeln, zu twittern. Kein Facebook zählt meine Freunde und Feinde. Heimlich vergnüge ich mich mit dem Gänsekiel. 

 

Günter Grass “Vonne Endlichkait”, 2015

Aus unserem Medienarchiv

Günter Grass war ein guter und leidenschaftlicher Tänzer. Sehen und hören Sie hier seine Anleitung zum “Schieber”, der für ihn ein primitiver Tanz war. Der Ausschnitt stammt aus der Sendung “Bücherjournal Extra” des NDR vom 2. Dezember 2003. 

Bund fördert Grass’ Koordinaten

Große Freude in der Günter Grass Stiftung Bremen: Sie ist in das Förderprogramm „WissensWandel“ des Bundes aufgenommen worden. Für ihr Medienarchiv wird die Stiftung von Anfang 2022 an mit insgesamt 150.000 Euro unterstützt. Die vom Deutschen Bibliotheksverband verantwortete Maßnahme „WissensWandel. Digitalprogramm für Bibliotheken und Archive“ ist Teil des Programms „Neustart Kultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Die Zusage hilft uns, in eine neue Dimension der Archivierung von Literatur in Ton und Film vorzustoßen. Gleichzeitig ist der positive Bescheid eine wohltuende Anerkennung für die geleistete Arbeit und die Neuaufstellung des Archivs in den vergangenen zwei Jahren. Mithilfe der Förderung, die um einen Eigenanteil von 25.000 Euro aufgestockt wird, soll das Projekt „Abenteuer Literatur im Dschungel ihrer Digitalisate: Visuelle Exploration des digitalen Medienarchivs” umgesetzt werden. Dabei entsteht eine interaktive Visualisierung potentieller Verbindungen zwischen Personen, die sich in den Datenbeständen des Grass Medienarchivs befinden (siehe Video). 

Mit ihrem digitalisierten Medienarchiv versteht sich die Stiftung als Partnerin der Forschung, Wissenschaft und interessierten Öffentlichkeit. Günter Grass als Mensch, Künstler und Schriftsteller soll gerade auch jüngeren Menschen erfahrbar gemacht werden. Der digitale Grass & Co. als Anspruch und Ziel unserer Stiftung macht deutliche Fortschritte. Über das Projekt im Rahmen von „WissensWandel“ werden wir auf unserer Projektseite berichten.

Zu guter Letzt …

—- Im neuen Jahr werden Sie die Stiftung mit ihrem Medienarchiv nicht nur online erreichen können, sondern auch real in Bremens Stephanikirchenweide 8 auf dem ehemaligen Kellogg-Gelände. Ab Februar möchten wir unsere Räume an drei Tagen in der Woche öffnen. Sie können dann das antike Schreibpult von Günter Grass betrachten, an dem er in Paris “Die Blechtrommel” schrieb. Wir verfügen über einen umfangreichen Bestand an Grass-Literatur – in deutscher Sprache, aber auch in vielen anderen Sprachen. Sehenswert ist zudem unsere Zeitschriften-Sammlung. Und gerne informieren wir Sie über die Arbeit in unserem Medienarchiv und die dort verborgenen audiovisuelle “Schätze”. An den Wänden finden Sie Exponate aus früheren Ausstellungen und wechselnde Bilder aus den zeichnerischen und graphischen Künsten von Günter Grass. Die Öffnungszeiten werden wir auf unserer Webseite veröffentlichen. https://grassmedienarchiv.de/

—- Die Hansestadt Lübeck ist eine Reise wert, auf alle Fälle das dort beheimatete Günter Grass-Haus. Noch bis Ende Februar 2022 zeigt das Museum die sehr zu empfehlende Sonderausstellung “Into the Trees”. Sie schlägt den Bogen von heute zurück in die 1980er Jahre. Sie zeigt, welche Bedeutung der Wald im Schaffen von Grass hatte, für den der Verlust des Waldes vor allem einen Verlust von Kultur bedeutete. In Poesie und Prosa, in Aquarellen, Zeichnungen, Lithographien und Plastiken beschäftigte er sich immer wieder mit dem Wald und der fortschreitenden Zerstörung der Umwelt durch Menschen. »Into the Trees« präsentiert eine Auswahl an Originalen aus verschiedenen Disziplinen. Bis zum 16. Januar bleibt das Haus geschlossen, weil eine neue Dauerausstellung vorbereitet wird. https://grass-haus.de/

Wir wünschen Ihnen
einen friedvollen, von
Zuversicht getragenen Jahreswechsel –
Gesundheit und Glück für 2022