Sommer-Journal 2022


Trommelwirbel

Sommer-Journal 2022 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Grass’ Wörter

Ich mag keine Leute,  
die zum Nutzen der 
Menschheit die Banane 
gradebiegen wollen. 

 

Günter Grass: “Aus dem Tagebuch einer Schnecke”

Verehrte, liebe Literaturfreunde, 

von Albrecht Dürer gibt es eine Zeichnung “Selbstbildnis, krank”, die – um 1509/11 entstanden – zum Kupferstichkabinett der Kunsthalle Bremen gehört. Eben diese Kunsthalle zeigt vom 6. Juli 2022 an die Ausstellung “Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier”, in der Dürers Selbstbespiegelung zu sehen sein wird. Den Hinweis auf die kommende Präsentation geben wir an dieser Stelle sehr gerne, zumal wir uns der Kunsthalle freundschaftlich verbunden fühlen. In deren Obhut befinden sich 77 Calcutta-Zeichnungen, die Günter Grass während seines Indienaufenthaltes 1986 anfertigte und die der Stadt Bremen gehören. Der leidende Renaissancemaler Dürer interessiert uns aber noch aus einem anderem Grund, nämlich im Zusammenhang mit dem nun 50 Jahre alten “Tagebuch einer Schnecke” von Günter Grass. 

Auf der Federzeichnung weist Dürer mit dem rechten Zeigefinger auf seine Milzgegend, die gelblich eingerundet ist. Oben fügt er handschriftlich hinzu: “Do der gelb fleck ist vnd mit dem finger drawff dewt do ist mir we.” Die Kustodin der Kunsthalle Bremen, Christine Demele, deutet die Zeichnung vor allem als biografische Notiz. Günter Grass hingegen konzentriert sich auf die mögliche Gleichstellung von Krankheit und Melancholie. Seit der Antike existiert die Vorstellung, dass melancholischer (schwarzgalliger) Saft in der Milz freigesetzt werden kann. Gleichzeitig wurde Melancholikern eine ziemliche Genialität zugeschrieben.
Günter Grass: “Bauernkalender nannten bis ins letzte Jahrhundert hinein Saturn einen sauren mürben Planeten, der Krankheit an Milz und Leber, Galle und Nieren verursacht. Indem diese inneren Organe unter Saturns Verantwortung fielen, waren sie der Melancholie ursächlich verbunden.” Dürers Kupferstich “Melencolia I”, der Jahre nach dem Selbstporträt fertiggestellt wurde, nahm Grass zur Grundlage für seine große, politische Rede in Nürnberg 1971 anlässlich des Dürer-Jahres zum 500. Geburtstag des Künstlers: “Vom Stillstand im Fortschritt”. Sie bildet sozusagen das Schlusskapitel in “Aus dem Tagebuch einer Schnecke”.
Darin berichtet er von seiner langen Wahlkampfreise für die SPD 1969 und von der Suche nach Stoff für seinen Dürer-Vortrag. “Ein Sprachwechselbad. Einerseits durch die pausbäckigen Zielbeschwörungen des Fortschritts positiv gestimmt und in Bewegung gehalten, blieb ich andererseits dem Bleigehalt dieser Rede verhaftet, weil ich mich frühzeitig für Albrecht Dürers Kupferstich entschieden hatte. … Täglichen Ausbrüchen in die Utopie entsprachen Rückfälle in melancholische Klausur. … Von einer Doppelherrschaft soll hier die Rede sein. Wie Melancholie und Utopie einander ausschließen. Wie sie sich wechselseitig befruchten. … Von Freud und Marx, die einem Dürer zum Doppelportrait hätten sitzen müssen. Vom Überdruß im Überfluß. Vom Stillstand im Fortschritt. Und von mir, dem Melancholie und Utopie Zahl und Adler der gleichen Münze sind.” Für Grass bildet Dürers Kupferstich nämlich keinen manisch-depressiven, sondern den Zustand “reaktiver Melancholie zur Zeit des Humanismus ab”. 

Aus dem Medienarchiv
Diskussion auf einem Bildungsforum in Düsseldorf zum Thema “Die politische Kompetenz der Dichter”. Die Aufnahme stammt vom 23. Juli 1975.

“Aus dem Tagebuch einer Schnecke” ist ein sehr persönliches Buch; ein Werk, das von Zweifeln ebenso durchzogen ist wie von Zuspruch und Zärtlichkeit. Günter Grass spricht darin zu seinen Kindern, beobachtet sie und bleibt nah dran. Er berichtet ihnen von dem zurückliegenden Wahlkampf für die SPD, für die er allen Bedenken zum Trotz Partei ergreifen wollte. Der erste Satz im Grass-Buch lautet: “Liebe Kinder, heute haben sie Gustav Heinemann zum Präsidenten gewählt.” Das war 1969.
Mit seiner Sozialdemokratischen Wählerinitiative geriet der Literat zwischen alle Fronten. Er wurde von seinen Kolleginnen und Kollegen ebenso argwöhnisch beäugt wie von Politikern und Publizisten. Vor sich selbst kann Grass bestehen; das Tagebuch ist neben der Beobachtung der verschiedenartigsten Schneckenarten – von der Haft- über die Weg- bis zur Sprungschnecke – auch eine Selbstbefragung: “Ich fürchte alle, die mich bekehren möchten. Mein Mut beschränkt sich darauf, möglichst wenig Angst zu habe; Mutproben lege ich keine ab.” Und: “Unsere Melancholie hockt zwischen Ideologien und verkümmerten Reformen: verarmt inmitten Beharrungsvermögen.”
Im Mai 1971 schickte Günter Grass dem “lieben Willy”, inzwischen Bundeskanzler, einen Durchschlag seiner Nürnberger Rede. Dazu schrieb er: “So kunsthistorisch der Gegenstand meiner Betrachtungen ist, die Rede fiel dennoch recht zeitgemäß aus: das Spannungsfeld zwischen Melancholie und Utopie ist Dir gewiß nicht fremd. Vielleicht kann Dir die eine oder andere Passage der Rede für weitergehende Überlegungen Anregung sein.” Willy Brandt bedankte sich herzlich “für Deine grossartige Dürer-Rede, die ich gleich noch ein paar mal lesen muss”. Grass reagierte darauf mit der Hoffnung, dass der Kanzler die Lektüre doch eines Tages abgeschlossen haben möge. Ihm war die Langsamkeit in der Politik bewusst, die er inzwischen aus eigener Erfahrung kennengelernt hatte. Schneckentempo.

Literatur erleben

50 Jahre Tagebuch einer Schnecke – das Buch ist auch Thema eines neuen Filmbeitrags auf Literaturerleben.de, der ab Samstag, 2. Juli 2022, zur Verfügung steht. Darin wird unter anderem Bruno GRASS, Regisseur und treuer FC St. Pauli-Fan, eine Passage aus dem Tagebuch vorlesen. Tomáš KAFKA, Botschafter der Tschechischen Republik in Berlin, Schriftsteller und Übersetzer, spricht über die Freundschaft der Kafkas mit der Familie Grass, den Prager Frühling und darüber, dass einer wie Günter Grass fehlt. Mehr erleben mit einem Klick!

Anna Grass: Aquarelle

Selbstbildnis, 1981

Die Günter Grass Stiftung Bremen widmet eine Ausstellung der Malerin, Tänzerin und Autorin Anna Grass. Sie findet vom 4. bis 28. August 2022 in der Unteren Rathaushalle in Bremen statt. Sie ist täglich von 11.00 bis 19.00 Uhr geöffnet. Zur Midissage am Sonntag, 21. August um 11.30 Uhr, wird Anna Grass, die in diesem Jahr 90 Jahre alt wird, persönlich anwesend sein.

Nostalgie in Neues gehüllt

Die Gremien der Günter Grass Stiftung Bremen, Vorstand und Kuratorium, tagten am 25. April in den Räumen der Stiftung auf der Überseeinsel. Überseeinsel? Nach getaner Arbeit führte Vorstandsvorsitzender Klaus Meier die interessierten Mitglieder über eine Großbaustelle direkt an der Weser, auf der gerade ein außergewöhnliches, lebendiges Quartier in nachhaltiger Bauweise und mit maritimem Flair entsteht – eben die Überseeinsel. Die Gruppe schlenderte über die Kellogg-Höfe, die eines Tages quirliger, bunter Boulevard sein werden – ein Ort für Kommunikation und Kultur; ein bisschen Kommerz wird freilich auch dabei sein. Hier, zwischen Reislager und grüner Weser-Promenade, auf dem Pfad zwischen Künftigem und Vergangenem, dürfte bald die Günter Grass Stiftung Bremen ihr neues Domizil beziehen, als gläsernes, für jedermann/-frau offenes Archiv- und Erlebnisstudio.

Ein Wahrzeichen auf der Überseeinsel bleibt das kreisrunde Silo, das demnächst ein ökologisch und technisch anspruchsvolles Röhren-Hotel beherbergt. “John & Will” heißt es dann, nach den Namen der Kellogg-Brüder. Schöne Aussichten also: So mancher von den älteren, vielleicht auch ein wenig amtsmüden Mitgliedern der Stiftungsgremien hat nach diesem Rundgang entschieden, sich aus Vorstand oder Kuratorium erst dann zu verabschieden, wenn er/sie mindestens einmal im schicken Silo übernachten durfte. Vielleicht gibt’s zum Frühstück auch Kelloggs Cornflakes … 

Fundgrube: 1997 – 1947 – 1847

Welche Rolle spielt der Schriftsteller in der Gesellschaft? Was ist die Aufgabe von Künstlerinnen? Diese Fragen werden seit jeher bis heute kontrovers diskutiert – gerne auch im Streit oder polemisch. Günter Grass wurde vorgeworfen, in seinen Werken – vor allem in “Ein weites Feld” – immer wieder Elemente einzubauen, die einer politischen Rede entstammen könnten; das sei keine Dichtung. Grass antwortete darauf in einem ZEIT-Interview 1999: “Das ist nichts Neues – in der Literatur von Balzac bis Fontane haben es immer Autoren gewagt, parallel zur Zeit zu schreiben.” Parallel zur Zeit:
1997: Yaşar Kemal, einer der bedeutendsten Romanciers der Türkei und kurdischer Abstammung, erhielt vor 25 Jahren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Laudatio hielt Günter Grass. In einem Gespräch mit dem WDR meinte Kemal: Künstler würden immer die Wahrheit sagen. Künstler wie Dostojewski, Brecht, Tolstoi, Balzac, Stendhal und Tschechow seien geblieben; Politiker von gleichem Rang gebe es nur wenige. In Paris lernte Kemal ein für Menschenrechtsfragen verantwortliches Europaratsmitglied kennen. Ihm habe er deutlich gemacht, dass er selbst mit seinem Leben für Menschenrechte kämpfen werde. Dabei seien es immer Menschen wie Günter Grass, die an seiner Seite stünden – und keine Politiker. Kemal: “Schriftsteller müssen mit den Mitteln der Sprache die Politiker auf die Diskrepanz zwischen Sachzwängen und Wahrheit hinweisen.”
1947: Albert Camus veröffentlichte seinen Roman “Die Pest”, der ihm endgültig internationalen Ruhm als Schriftsteller bescherte. Hintergrund des vor 75 Jahren erschienenen zeitkritischen Werkes bilden die persönlichen Erfahrungen des Franzosen Camus insbesondere des Zweiten Weltkriegs. Während der deutschen Besatzung arbeitete Camus an einer Schule im algerischen Oran. Oran ist auch Schauplatz seines Romans. Dort am Meer kommen eines Tages in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Ratten aus den Kanälen und verenden auf den Straßen. Einzig der Arzt Rieux und der Beamte Grand versuchen der sich rasant ausbreitenden Pest in der Stadt – hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt – nicht zu entkommen; sie versuchen zu helfen. “Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergaßen nur die Bescheidenheit und dachten, daß ihnen noch alle Möglichkeiten offenblieben, was aber voraussetzt, daß Heimsuchungen unmöglich sind. … Sie glaubten sich frei, und keiner wird je frei sein, solange es Geißeln der Menschheit gibt.” Scharfsinnig stellte der Autor menschliches Verhalten im Angesicht der Apokalypse dar – mit der Erkenntnis, dass menschliches Handeln und Widerstand Sinn machen, dass Zerstörung nicht unabwendbar ist. Von Camus, so sagte Günter Grass einmal, könne man seine Haltung lernen, “dieses Aushalten einer deprimierenden Zeit, dieser lange Atem im Widerstand gegen Ausbeutung, Zerstörung und Haß”. Das habe auch mit Schmerz zu tun. Es reicht nicht, sich künstlerisch zu äußern, es müssen Themen aufgegriffen werden, die unter die Haut gehen. Günter Grass: “Schmerz ist der Hauptgrund für meine Arbeit und mein Schaffen.”
1847: Von Balzac war bereits die Rede. Vor 175 Jahren machte sich der französische Schriftsteller auf den mühsamen Weg in die Ukraine, um auf Schloss Wierzchownia auf Brautschau zu gehen. Und er schrieb während seiner Reise parallel zur Zeit. Mal spöttisch (“Vielleicht wird Berlin eines Tages die Hauptstadt Deutschlands sein, feststeht, dass es immer die Hauptstadt der Langeweile sein wird.”), mal judenfeindlich und vorurteilsgeladen (“Die Juden sind ausnehmend diebisch, in dieser Hinsicht sind sie den Chinesen eng verwandt.”), häufig mit Feingefühl.

In “Ein Abglanz meines Begehrens – Bericht einer Reise nach Russland 1847” schrieb Honoré de Balzac: “Wenn ich voller Sorgen bin, wird mich Kiew mit seinen Kuppeln, Kiew mit seine Hügeln, seinen Gärten und Schatzkammern locken und die Ärgernisse der Literatur zustreuen.” Und weiter: “Wierzchownia gilt als das prächtigste Anwesen der Ukraine, die so groß wie Frankreich ist. Man genießt hier die herrlichste Ruhe. Die Amtspersonen waren selbst mir gegenüber ausgesucht galant und aufmerksam; ohne diese Wunder wäre ich keinen Schritt weit gekommen, da ich die Sprachen der von mir durchquerten Länder nicht kenne.” Balzac erlebte die “schönsten Herrlichkeiten” und konnte am Ende seine dort beheimatete Gräfin und Geliebte zur Heirat überreden – in einem Land der “vollendeten Friedlichkeit”. Möge der Ukraine Letzteres in absehbarer Zukunft beschieden sein.