Sommer-Journal 2023


Trommelwirbel

Sommer-Journal 2023 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

 

Grass’ Wörter

Gartenbänke, die einmal gestürzt,
stehen nun ledig, kundig des Herbstes,
zwischen den nassen Stachelbeersträuchern,
vom Regen, Aufbruch, mitten im Satz,
vom Mond, der nie stillsitzt, bevölkert.

 

aus dem Gedicht: “Möbel im Freien” 

Liebe Literaturverbundene,  

“Kein Mann, kein Schuss, kein Tor” heißt ein sehr kluges Buch über den Fußball und seine problematischen Auswüchse bis in die Literatur hinein. Darin schreibt der Autor und Kritiker Helmut Böttiger: “Die zeitgenössischen Dramen voll Schicksal und Tragik finden nicht mehr auf den überholten Bühnen der Stadttheater statt, sondern in den Fußballstadien.” Gewiss, allerdings: Auf den Bühnen haben immer auch Frauen Hauptrollen gespielt, auf dem grünen Spielfeld lange nicht. Noch 1955 untersagte der Deutsche Fußball-Bund (DFB), also Männer, den Frauenfußball, weil im Kampf um das runde Leder “die weibliche Anmut schwindet”. Dass sich berufene Kickerinnen von diesem erst 1970 gekippten Verbot nicht aufhalten ließen, änderte nichts am Belächeln und an Beleidigungen aus den (nicht nur männlichen) Zuschauerreihen. Im ZDF-Sportstudio von 1970 kommentierte Wim Thoelke eine Spielszene im Frauenfußball: “Die Zuschauer brauchen sich gar nicht aufzuregen, die Frauen waschen doch ihre Trikots selber. Wenn die Männer in den Schlamm fallen würden, das wäre schlimm, weil dann müssten die Frauen zuhause waschen.” 

Zeitsprung: Der deutsche Frauenfußball zählt inzwischen zur internationalen Spitzenklasse. Als die weibliche Nationalelf 1989 erstmals den EM-Titel gewann, schenkte der DFB den Spielerinnen ein Kaffeeservice “Mariposa” der Marke Villeroy & Boch – konnte oder besser glaubte man(n) damals wohl noch, guten Gewissens so machen zu können. Ein Teil des edlen Porzellans steht derzeit in der Ausstellung Günter Grass – Mein Fußballjahrhundert, die noch bis zum 6. August 2023 täglich von 12.00 bis 19.00 Uhr in der Unteren Rathaushalle Bremen zu sehen ist. Eine Abteilung widmet sich der Entstehungsgeschichte und Gegenwart des Frauenfußballs, wie sie nach Auffassung von Grass gegen den Widerstand der Männer durchgesetzt wurde. Ein Besuch der Ausstellung, die sich natürlich auch der wechselvollen Entwicklung im Herrenfußball widmet, lohnt sich in jedem Fall. Zur Einstimmung das folgende Video Und am Samstag die Sportschau

Kein Wunder, am Eröffnungsabend der Ausstellung drehte sich dann doch alles um den (Profi-)Fußball als männliche Domäne. Gastredner Jürgen Kaube, Autor und FAZ-Herausgeber, erwies sich als sachkundiger, eloquenter Kommentator des Ballspiels und seiner Ästhetik. Das berühmteste Fußballgedicht deutscher Sprache stamme, so Kaube, von Peter Handke. Er beschrieb, nein, dafür schrieb er ab und zwar die Aufstellung der Mannschaft des 1. FC Nürnberg am 27. Januar 1968. Und das auch noch fehlerhaft. Es ist nicht nötig, das Gedicht an dieser Stelle wiederzugeben. Urteil Kaubes: Handke habe mit Fußball nicht viel am Hut: “Das geht auch aus seinem berühmten Erzählungstitel ‘Die Angst des Tormanns beim Elfmeter’ hervor. Denn der Tormann hat gar keine Angst, der Schütze hat sie – womöglich.”

Ausdrücklich widersprach der Publizist dem Urteil des Großkritikers Marcel Reich-Ranicki, der Sport sei ungleich einfacher, primitiver, oberflächlicher als die Literatur. “Das ist er nur, wenn man nicht hinschaut, wenn man den Blick nicht übt. Das würde ja aber auch für die Literatur gelten.” Fußball – eine gute Erzählung also, bei der man sich mindestens 90 Minuten lang konzentrieren muss.

Nun, es naht die Zeit, in der wir alle unseren Blick wieder trainieren und herausragende Spiele auf gepflegtem Rasen, der nie grün genug sein kann, genau verfolgen können. Am 20. Juli startet die Frauenfußball-WM im fernen Australien. 32 Teams treten an, darunter das deutsche. Auch die Nationalelf der kleinen Schweiz ist dabei, mit großen Erwartungen im Gepäck. Denn 2025 wird die Alpenrepublik die Frauenfußball-EM ausrichten, eine schöne, eine überraschende Entscheidung der UEFA. 

Wie immer die Eidgenossinnen abschneiden werden, auch ohne Sieg und Ehrenplätze gibt es im eigenen Land genug nichtsportlichen Grund zu frohlocken. Die Schweiz feiert in diesem Jahr 175 Jahre Verfassung. Aus dem Staatenbund der alten Eidgenossenschaft wurde am 12. September 1848 mit ihrem Inkrafttreten ein Bundesstaat und damit die erste Demokratie der Neuzeit in Europa geboren. Ihre stärksten Pfeiler sind das Prinzip der Gewaltentrennung, die föderalistische Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, freie Wahlen und die wesentlichen Grundrechte für Bürgerinnen und Bürger. “Auch in Kunst und Kultur erlebte die junge Republik einen Quantensprung – durch Wagner, Semper, Kinkel, Herwegh, den Freunden des Rückkehrers Gottfried Keller. Die Schweiz war nie europäischer als nach 1848”, sagte der Schriftsteller Adolf Muschg in einem Interview. Bemerkenswert, dass ein Satz von Muschg Eingang in die Präambel der Bundesverfassung fand – nämlich, “dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen”. 

Günter Grass, der in freundschaftlicher Verbindung zu Adolf Muschg stand, mag solch staatsbürgerliches Engagement begrüßt haben, wie umgekehrt Muschg auch das Einmischen des politisch handelnden Bürgers Grass guthieß. In einem Brief vom 6. Oktober 1985 an seinen deutschen Kollegen formulierte er: “Der Hauptzweck dieses Briefleins ist ein anderer: ich möchte Dir einmal signalisieren, wie sehr mir Deine Art, der Akademie (der Künste) ein Gesicht zu geben, und dieses Gesicht auch an unbequemen Orten zu zeigen, imponiert, dass ich Deine Arbeit, für die Du nicht überall den Dank des Vaterlandes und lieber Kollegen erntest, notwendig, eine staatsbürgerliche Dienstleistung hohen Ranges finde; und folgerichtig: dass ich mich geniere, so wenig ‘dabei’ zu sein.”

Aus dem Medienarchiv
In der Schweiz kann auch schon mal ein Baum zum “Politikum” werden. Durch seine Schwiegereltern waren Günter Grass die Elemente der “direkten” Demokratie mit den ständigen Volksentscheiden vertraut. Er selbst bekannte sich später zur “repräsentativen” Demokratie. 1971 redete er auf der Jungbürgerfeier in Zürich zum Thema “Die Schweiz von außen” und fand kritische Worte zur “Formaldemokratie”. Ausschnitt: Schweizer Filmwochenschau (SFW).

Günter Grass und die Schweiz, das ist ein Kapitel für sich, vor allem in seinen jüngeren Jahren und während seiner ersten Ehe mit der Lenzburgerin Anna Schwarz, Tochter eines Stahlhändlers im Kanton Aargau. Diese Liebe bedeutete für ihn den Eintritt in das einflussreiche Großbürgertum und – was Grass wohl mehr berührte – Zugang zum bildungsbürgerlichen Bücherschrank seiner Schwiegereltern. Die Literaturwissenschaftler Dorothee Neuhaus und Volker Neuhaus haben in ihrer “Katalogisierung und Kommentierung der Jugendlektüren von Günter Grass in den 1930er und frühen 1940er Jahren” herausgearbeitet, was den jugendlichen und jungen Grass in seinem künstlerischen Werdegang geprägt hat, angefangen mit dem Bücherschatz seiner Mutter Helene. “Dem ‘Bücherschrank’ seiner Mutter verdankt er die weite Belesenheit in der europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, der Bibliothek der Düsseldorfer Franziskanerkommunität … Kenntnisse in der Weltliteratur von den 1920er bis zu den 1940er Jahren und den vielen Bücherschränken seiner Schweizer Schwiegerfamilie Schwarz alles noch Fehlende hinauf zu Joyce und Döblin.” Dabei von Anfang an und immer wieder der Schweizer Gottfried Keller.

Günter und Gottfried

– zwei Lebenswege mit deutlichen Parallelen: beide Dichter und Maler, beide politisch Tätige und politische Publizisten; der eine als Wahlkampfhelfer der SPD, der andere als Freischärler und Erster Staatsschreiber des Kanton Zürich: “Noch als Berliner Kunststudent konnte (Grass) in den 1950er Jahren in den Bibliotheken von Kellers Landsleuten, der Familie Schwarz, sogar den ihn ganz aktuell umtreibenden Kampf zwischen ‘Abstraktion’ und ‘Gegenständlichkeit’ in den Münchner Kämpfen (um die Räterepublik) eines ‘Idealismus’ gegen einen ‘Realismus’ über 100 Jahre zuvor vorgespiegelt sehen – und den ihm von seiner Kindheit her vertrauten Keller dabei auf seiner Seite wissen!” Und, so Dorothee und Volker Neuhaus weiter: “Keller widmet sich 1861 der Politik, um leben und schreiben zu können, Grass kann die durch sein Schreiben gewonnene Unabhängigkeit nutzen, um seinem Gemeinwesen nützlich zu sein.”

Günter Grass, die Schweiz und noch ein Erlebnis der besonderen Art: Vermutlich schon 1954 trifft Grass im Esszimmer seiner Schwiegereltern den kleinen Matthias Scheurer aus Wettingen. Er trottet seiner Mutter hinterher, die einer Einladung der Familie Schwarz verspätet gefolgt ist. Der Junge hat um den Hals eine Blechtrommel hängen. Statt den Gastgebern höflich die Hand zur Begrüßung zu reichen, marschiert er wortlos um den gedeckten Tisch und trommelt, was das Zeug hält. Die Mutter ist pikiert, redet ihm gut zu, doch der Sohn lässt nicht von seinem Instrument ab, verschwindet lieber. Günter Grass hat sich den Auftritt offenbar schweigend angeschaut – aber später diese Erfahrung zur Geburt Oskar Matzeraths aus dem Geist des Protests gegen die Erwachsenenwelt genutzt, einer kleinwüchsigen Figur, die seinem ersten Roman “Die Blechtrommel” zu Weltruhm verhelfen sollte. Soweit die Überlieferung…

Die Günter Grass Stiftung Bremen wünscht einen angenehmen Sommer und erholsame Ferien,
vielleicht in der schönen Schweiz
!

Zuallerletzt

Harro Zimmermann, Literaturwissenschaftler und früherer Kulturredakteur bei Radio Bremen, hat eine umfassende Biographie über Günter Grass geschrieben, die demnächst im Hamburger Osburg Verlag erscheint. Der Autor durchforstete für das über 900 Seiten starke Werk den Grass-Nachlass in der Akademie der Künste, sprach mit zahlreichen Zeitzeugen, Grass-Vertrauten und Kritikern. Hilke Ohsoling, die langjährige Mitarbeiterin von Grass, gewährte ihm Einblick in ihre Tätigkeit. „Alle haben etwas zu Günter Grass gesagt, aber es ist keineswegs alles gesagt“, betonte Zimmermann in einem Interview.

Neben der ästhetisch-philosophischen Tiefe des Werkes habe ihn die Zeitgeschichte und der Einfluss des bildkünstlerischen und literarischen Werks auf die bundesdeutsche Mentalitätsgeschichte interessiert. Hier sei noch viel nachzutragen. Grass habe den grimmbärtigen Intellektuellen durchgesetzt, den literarischen Diskurs für die politische Debatte geöffnet. “Günter Grass – Biographie” wird in Anwesenheit des Autors und Wegbegleitern von Grass am 15. September 2023 in der Bremischen Bürgerschaft vorgestellt.