Frühjahrs-Journal 2022


Trommelwirbel

Frühjahrs-Journal 2022 Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Grass’ Wörter

Ach, stünde die Welt doch Kopf! 
Vielleicht fiele ihr was 
aus der Tasche. 
Der Schlüssel, zum Beispiel, 
passend für einen Ausweg. 

Günter Grass, “Kurz vor Ostern”, 2007

Verehrte, liebe Literaturfreunde,

der verdammte Krieg, sagte meine Mutter. Sie, Jahrgang ’35 und damit Kriegskind, erinnerte sich bei meinem letzten Besuch so intensiv an die ukrainische Zwangsarbeiterin auf dem elterlichen Moorbauernhof wie ich es vorher noch nicht erlebt hatte. Gewiss, von Zinka war in der Vergangenheit immer mal wieder die Rede gewesen. Jetzt plötzlich kannte und nannte sie auch ihren Nachnamen: Mukamella – Zinka Mukamella. Und ihr Bruder hieß Johann. Eines Tages habe sie die Nachricht erhalten, dass er an der Front gefallen sei; tagelang habe Zink um ihn geweint. Meine Mutter erinnerte sich, dass Zinka die Kinder auf dem Hof sehr mochte, machte aus Pferdehaaren Bälle für die beiden. Ja, und in Zeitungspapier schnitt sie schöne Muster und verwendete es anschließend als Gardine für ihre Schlafnische auf der Diele. Der verdammte Krieg; meine Mutter las in letzter Zeit nicht mehr sehr viel – außer die Heimatzeitung. Darin versucht sie sich nach wie vor im Kreuzworträtseln. Nun aber meinte sie, sie hätte in einem Buch über Rasputin gelesen, um mehr über Russlands Vergangenheit zu erfahren. Beim Abschied fragte sie, ob ich ihr das nächste Mal das Tagebuch der Anne Frank mitbringen könnte.

Der Krieg gegen die Ukraine überrollt gerade die Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, legt lange Verdrängtes, fast schon Vergessenes in der Seele frei. Doch Unruhe und Beklemmung haben sich inzwischen überall eingenistet; die Situation ist zum Verzweifeln. Da möchte man “entfliehen” (und schämt sich für die Wortwahl, wenn man an die vielen Flüchtlinge in diesen Tagen denkt) – zumindest eine Weile nichts hören und sehen vom realen Geschehen. Die Erzählung “Das Treffen in Telgte” von Günter Grass ist etwas, das einen weit fortträgt – in eine andere Zeit, die ebenfalls noch kriegerisch ist, gewiss, aber auch das Leben feiert, mit Lust und Geist und mancherlei Derbem. Es ist das Jahr 1647; in einem fiktiven Treffen von deutschen Barockdichtern und Gelehrten in Telgte bei Osnabrück tauschen sich die Künstler über ihre Arbeiten aus, diskutieren ihre Machtlosigkeit in der Gesellschaft und ringen sich am Ende zu einem gemeinsamen Friedensappell durch. Auch wenn bei einem Brand in ihrer Unterkunft das Friedenspapier ein Opfer der Flammen wird – die Poeten beschwören wunderbar die Kraft der Sprache und Literatur. Beinahe etwas Tröstliches vermitteln die Worte, die Grass an den Anfang seiner Erzählung stellt: “Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben.” Und: “Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.” In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine bewegte Oster- und Ferienzeit, die Hoffnung gibt!

Ihr Horst Monsees

Aus unserem Medienarchiv
Günter Grass liest Teile seines “Kinderliedes” vor, das im 1960 erschienenen Gedichtsband “Gleisdreieck” enthalten ist. Der Ausschnitt stammt aus der “Hessenschau” des Hessischen Rundfunks vom 11. Oktober 1963.

Pudding, Pulver, Provokation 

Eine Geschichte, die sich auch in Kriegszeiten ereignete, vor 55 Jahren: Am 18. April 1967 schrieb Günter Grass an seinen Schriftstellerkollegen und Freund Uwe Johnson nach New York: “Mir haben die … Aktionen den Ruf eingetragen, der große Rausschmeißer der Puddingschmeißer zu sein. Auch diesen Titel werde ich mit Würde und Anstand bis an das Ende meiner Tage zu tragen wissen.” Was war passiert? In der ersten April-Woche 1967 machte eine Gruppe von Studentinnen und Studenten Schlagzeilen, weil sie angeblich ein Attentat auf US-Vizepräsident Hubert Humphrey vorbereiteten, der in Berlin zum Staatsbesuch erwartet wurde. Zu diesem Zeitpunkt führten die USA an der Seite von Südvietnam Krieg gegen Nordvietnam. Sogenannte Kommunarden um Ulrich Enzensberger, Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann versammelten sich in der Wohnung von Johnson in Friedenau, die dieser wegen eines längeren USA-Aufenthaltes vermietet hatte. Die Polizei bekam Wind von der vermeintlich verschwörerischen Aktion und ließ die Leute einen Tag vor der geplanten Tat festnehmen. “Horror-Kommune” titelte die Boulevardpresse, sogar amerikanische Zeitungen berichteten von “gefährlichen” und beängstigenden Ansinnen. Dabei plante die Gruppe nicht mehr als einen “Akt der Lächerlichmachung”. Es sollten Beutel voll Puddingpulver und Mehl, Eier und Kuchen in Richtung Humphrey geworfen werden, auch als Protest gegen den Vietnamkrieg. Die Inhaftierten mussten also sehr bald wieder freigelassen werden. Uwe Johnson hatte aus der Ferne Günter Grass gebeten und Vollmacht erteilt, die unliebsamen Mieter aus seinen Räumen zu entfernen. Die Medien gierten danach, sich ein Bild vom Innenleben der antiautoritären WG machen zu können. Wohl mit allen Mitteln. Anna Grass berichtete am 9. April an Johnson: “Auf der Treppe drängten Journalisten. … Günter konnte sie nur mit seiner Schulterbreite und Zureden daran hindern, deine Wohnung zu fotografieren.” Die als Kommune 1 bekanntgewordene Gemeinschaft, die die freie Liebe und Auflösung aller Privatverhältnisse propagierte, zog in eine andere Bleibe und schrieb damit die Vorgeschichte der Studentenunruhen von 1968.

Schlagzeile zum vermeintlichen Attentat

Anna Grass: Aquarelle und mehr

Anna Grass war von 1954 bis 1978 mit Günter Grass verheiratet; ihr widmete der Schriftsteller seinen großen Erfolgsroman “Die Blechtrommel”. 1956 zog es das Ehepaar nach Paris, wo er allmählich zu literarischem Ruhm gelangte und sie sich als Balletttänzerin fortbildete. Älter noch als ihre Leidenschaft für den Tanz ist freilich ihr Bedürfnis zu malen. “Ich komme aus einer Sonntagsmalerfamilie”, sagt die gebürtige Schweizerin. Landschaften, Stillleben, Porträts – das Werk von Anna Grass ist vielfältig und umfangreich. Anlässlich ihres 90. Geburtstages bereitet die Günter Grass Stiftung Bremen eine Ausstellung mit Aquarellen der Künstlerin vor. “Ich bin eine verkappte Abenteurerin”, betont sie in einem Gespräch, das im März in ihrer Wohnung in Berlin-Friedenau aufgezeichnet wurde und ebenfalls Bestandteil der Ausstellung sein wird. Außerdem: Fotos aus ihrem Leben und ihr 2017 erschienenes Buch “Im Gebirge” mit Texten und Zeichnungen von Anna Grass. Über Beginn und Dauer der Präsentation werden wir rechtzeitig informieren.

Zu guter Letzt …

—- Sieben Jahre nach dem Tod von Günter Grass hat das Lübecker Günter-Grass-Haus die Dauerausstellung über den Nobelpreisträger neu gestaltet.

“Das ist Grass” heißt die Schau, die erstmals in der Geschichte des Hauses Leben und Werk Grass’ von seiner Geburt 1927 in Danzig bis zu seinem Tod 2015 in Lübeck abbildet. Zu sehen sind zahlreiche Originalexponate aus dem umfangreichen Archiv des Hauses und Leihgaben der Günter und Ute Grass Stiftung. Ein Höhepunkt der gelungenen Ausstellung, die täglich von 10 bis 17 Uhr besucht werden kann, ist die Olivetti, auf der Grass seinen Roman “Die Blechtrommel” verfasst hat. Weitere Infos: https://grass-haus.de/

—- Anlässlich seines 75. Geburtstags erscheint die Autobiografie des Religionswissenschaftlers und Germanisten Martin Kämpchen. Der in Boppard am Rhein geborene Kämpchen lebt seit fünf Jahrzehnten in Indien, tauchte ein in das religiöse, kulturelle und soziale Leben des Landes, initiierte und förderte soziale Projekte, betätigte sich als Berichterstatter und Übersetzer des bengalischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore. In Indien gewann er auch das Vertrauen eines weiteren Nobelpreisträgers: 

Kämpchen erinnert sich an den letzten Grass-Besuch 2005 in Kalkutta. Beim Abschiedsabend am Swimmingpool des Hotels war er dabei: “Wir plauderten, und dann bot der Dichter mir das Du an. Ich war sprachlos, sprachlos dankbar. Das ist mein unvergesslicher Grass-Augenblick.” Das Buch “Mein Leben in Indien” aus dem Patmos Verlag kostet 32 Euro.