Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 10)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Dichter und Künstler, Aufklärer und Patriot

Der Tod des Schriftstellers am 13. April 2015 könnte einen „Anerkennungswandel vom Störenfried zum Nationaldichter“ möglich gemacht haben. Zwar wusste Grass, dass seine Landsleute ihren toten Dichtern fleißige Kranzbinder und Trauerdarsteller sind, aber man wird die Lauterkeit des Gedenkens an die „deutsche Stimme der Weltliteratur“ nicht verkennen dürfen. Wenn jetzt von einem Renaissance-Menschen und Gesamtkunstwerk die Rede war, vom Idealbild des Bürgers, vom Nationalpoeten und vor aller Welt gekrönten Dichterfürsten, von dem Mann, der Deutschland verkörperte, dann wurde mehr heraufgerufen als ein Arsenal eingeübter Lobesfloskeln. Die Kritik näherte sich auf ihre Art wieder der Grundstimmung im Grass-Lesepublikum. Dieser nicht unerwartete und doch so plötzliche Tod löste in Deutschland einen Schock aus, die Medien überschlugen sich in Gedenkbetriebsamkeit, und die Menschen reagierten mit einem erneuten Bücher-Kaufrausch in Sachen Grass.

Als Zeitzeugen erkannten und erkennen sich viele Deutsche in der multimedial nach wie vor präsenten Geistes-Physiognomie dieses Künstlers wieder, auch wenn seine Allgegenwart und seine Polarisierungsenergie in der Vergangenheit nicht wenigen oft zu schaffen gemacht hat. Aber dem standen und stehen unbestreitbare Sympathiewerte in der Dichter-Nation-Beziehung gegenüber. Seiner Liebe zu den Deutschen und zu ihrer Sprache, das hat Grass wiederholt erklärt, sei Kritik immer schon unverzichtbar gewesen. In der Tat gab es bei ihm selten eine Haltung zum national Eigentümlichen, die frei gewesen wäre von pädagogischer Reinigungsabsicht, aber dass die Deutschen nach 1945 aus ihrer Nazi-Vergangenheit gelernt haben und passable Demokraten geworden sind, betonte er am Ende seines Lebens nicht ohne Stolz. Oft hat Günter Grass betont, wie sehr ich dem Wohl und Wehe der Bundesrepublik und damit dem immer noch nicht abgeschlossenen Versuch, hierzulande die Demokratie zu etablieren, verbunden bin. […] Kritik soll auch Fürsprache sein; und Fürsprache ist der schwierigste Teil der Kritik. Früher hielt man diesen beißenden Kritiker in aller Welt für den Repräsentanten eines ‚besseren’ Deutschland, heute dürfte das auch für den Patrioten gelten.

Günter Grass hat seine Vorstellung von der Republik Deutschland am stärksten in den Zeit- und Ordnungsmaßen der sechziger und siebziger Jahre verinnerlicht – er hätte darin gern ein weltoffenes Gemeinwesen in der Tradition von Aufklärung, demokratischem Sozialismus und nationaler Geschichtsverantwortung gesehen, das im streitbaren Konsens zwischen Parlamenten und Parteien, diskursfähiger Öffentlichkeit und mutiger Zivilgesellschaft die deutschen Geschicke von jeder ökonomischen wie ideologischen Heteronomie freizuhalten vermag. Für eine kurze Zeitspanne, in der Willy Brandt und die SPD sein erklärter Inspirationsmittelpunkt waren, mag der Dichter diesem Projekt eine wirkliche, wenn auch am Ende nicht einlösbare Chance zugebilligt haben. Ursprung und Fokus seines politischen Gedankenradius und seiner Meinungsemphasen ist es gleichwohl geblieben bis zuletzt.

Grass hat Entscheidendes beigetragen zur Ausprägung der Figur des Intellektuellen in Nachkriegsdeutschland, und doch hat er sich nie als ‚Gewissen der Nation‘, als ‚Praezeptor Germaniae’ verstanden. Hingegen nahm er den eigenen Dichterruhm gern in die Pflicht für eine Art Wächteramt über die demokratische Verfassungswirklichkeit in seiner Heimat. Der 68er ‚Studentenrevolution’ widerstritt er nicht ohne Sympathien, sondern im Interesse einer liberalen politischen Pragmatik, und noch die rot-grüne Ära der Republik hat bei ihm manche Hoffnung auf die künftige Vitalität des demokratischen Sozialismus genährt. In beiden Fällen ging es um die Bedingungen der Möglichkeit eines staatsbürgerlich ermutigten, geschichtsbewussten und weltoffenen Patriotismus der Bundesdeutschen in Europa. Er selbst hatte zu jener Zeit den Höhengrat seines öffentlichen Einflusses allerdings überschritten. Doch dem Dichter der Deutschen war, wenn auch nicht ohne Bedenken, die nationale Einheit in Uneinigkeit ans Herz gewachsen. Dies zeugte noch einmal vom sympathisierenden, schneckenhaften Optimismus des großen Demokraten.

Der Intellektuelle und Künstler muss ein Bekennender zur Universalität der Menschenrechte und ein sachkompetenter, pragmatischer homo politicus sein, das hat Grass lebenslang als Leitbild festgehalten. Drei Problemkomplexe waren es, um die sein extrem empfindliches politisches Gespür und seine unverhohlenen Befürchtungen immer wieder kreisten – das Vergessen von Auschwitz mitsamt dem Verlust der deutschen Schuld-Besonnenheit, das Reüssieren irrationaler, rechts- wie links-ideologischer Kräfte, und die Stigmatisierung und Aussonderung fremder, zumal emigrantischer Minderheiten. Was in seiner Nazi-Jugend geschehen war, schien im Alter an potenzieller Bedrohlichkeit nichts verloren zu haben. Grass trug zeitlebens eine tiefe Angst vor der schuldhaften Verstrickung des Einzelnen in die menschengemachten Desaster des Wider-Vernünftigen mit sich, totalitäre Machtperversion, inhumanen Kollektivismus und die Fatalität politischer Heilsversprechen hatte er hautnah zu spüren bekommen: Das war es – ist es wohl immer noch: Zeitenwende. Erlösung. Das Reinigende, Befreiende.

Dem steht eine Haltung des Bürgers Grass gegenüber, die sich nach all den Streitereien um die Bedeutung des Intellektuellen/Künstlers in der Gesellschaft als zukunftsfähig erwiesen hat, denn immer noch muss die Demokratie mit argumentativer Kraft und Bekennermut gegen ihre Widersacher und ihre Gefährdungen verteidigt werden. Zudem lässt die fragmentierte Medien-Öffentlichkeit bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung den (staats-)bürgerlichen Konsens zerfasern und veröden, gegen stimmungspolitische Hysteriewellen stehen nicht viel mehr als eine normativ geschwächte Politik und die diffusen Effekte von Netz-Kampagnen, Experten-Debatten und Prominenten-Talk-Shows. Mag das Credo des auratischen Intellektuellen angesichts der medialen „Metamorphose der Welt“ (Ulrich Beck) auch an Bedeutung verloren haben, Günter Grass, Altmeister der kunstgeschärften Tiefendeutung nationaler Gegenwartsbefindlichkeit, charismatischer Konfliktmagnet, im Für und Wider unverwechselbarer Bürger und Künstler, spätromantischer Aufklärer und Patriot er fehlt der demokratischen Streitkultur in der Bundesrepublik.

Über den Autor

 

Prof. Dr. Harro Zimmermann ist Literaturwissenschaftler, Publizist und Rundfunkjournalist. Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, darunter mehrere über Günter Grass. Derzeit arbeitet er an einer neuen Grass-Biographie. Harro Zimmermann ist Mitglied im Kuratorium der Günter Grass Stiftung Bremen.

Wahlkampf 1980 2

Auch 1980 ging Grass auf Wahlkampftour.