Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 9)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Vorheriger Abschnitt: Wortkünstler und Staatsbürger

Auschwitz und die Aura des Nationalautors

Wer als Leser zu Grass’ Büchern griff, tat das zumeist und tut es wohl immer noch, um seines unverwüstlichen Nimbus und seiner einzigartigen Sprachimpulsivität innezuwerden, aber auch um die Zeitstimmungen und das Problembeben, die kritische Erfindungsenergie dieser Texte zu genießen. Und immer wieder hat sich dabei eines gezeigt – Grass’ Person und Werk provozierten nicht nur, sie verkörperten selber die Präsenz des Mementos Auschwitz im Bewusstseinshaushalt der Bundesrepublik. Wo der reizbare Patriotismus des Dichters sich erkältete, schien die Nation einen Schnupfen zu bekommen, und dies oft vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Das verschärfte noch einmal die wechselseitigen Empfindlichkeiten im Lande, und konnte manchen Überschwang in der rhetorischen Eskalation erklären.

Die Heterogenität und Vorurteilsgeladenheit der Grass-Rezeption wurde besonders deutlich an dem Verdikt, er sei ein Verächter Israels, ein mehr oder minder verkappter Antisemit. Die Wurzeln derartiger Tiraden lagen im aufkommenden Verdachtsklima der sechziger Jahre und haben sich durchgehalten bis 2012, als es zu einer deutschlandweiten, ja globalen Auseinandersetzung um sein Gedicht ‚Was gesagt werden muss’ kam.

In sachlich falscher, verbohrter und ehrenrühriger Weise hat man sich damals eines inflationären und banalisierenden Antisemitismus-Begriffs bedient, der sein „ursprüngliches emanzipatives Aufklärungspotenzial nahezu vollends zugunsten interessengeleiteter, perfider Diffamierungstaktiken und -strategien“ eingebüßt habe, schrieb Moshe Zuckermann. Diese „entstellt-entstellende Nomenklaturorgie“ sei besonders in Deutschland zum zentralen Faktor der „Degeneration der öffentlichen Debatte im Hinblick auf alles, was ‚Juden’, ‚Israel’ und den ‚Zionismus’ belangt, avanciert.“ Nicht nur ein Mann wie Ariel Scharon habe einst jede Kritik an Israel als zwangsläufig antisemitisch empfunden, noch immer würden jüdische „Denkimperative“ vermittels einer hinterhältigen und einschüchternden Schmähpraxis durchgesetzt.

Günter Grass als Antisemit – ausgerechnet dieser deutsche Intellektuelle und Künstler, der sich zeitlebens wie kaum ein zweiter in die von Schuld, Scham und Nichtvergessendürfen grundierte Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz vergraben hat, sollte zu einem Verächter des Jüdischen gestempelt werden. Solchen Injurien ist massiv und begründet widersprochen worden, aber die Willkür, Unsachlichkeit und Aggressivität bei vielen Kritikern bezeugte doch ein merkwürdiges deutsches Syndrom von Autorwahrnehmung und Erinnerungskultur. Dass in den neunziger Jahren ein ominöser Geist der ‚Berliner Republik’ von sich reden machte, der das Problem Auschwitz aus der ‚normalen’ deutschen Geschichte und aus der jungen Staatsgründungsidee verbannen wollte, hat keine Tradition gestiftet, aber es führte zu einer Art Schwundform des Schuldeingedenkens, zu einem gewissermaßen frei verfügbaren Antisemitismusverdacht. Im Fall Grass galt für einige Kritiker in diesem Sinne seit Jahrzehnten die höchste Alarmstufe der Empfindlichkeit, denn immer schien bei solchen Streitereien auch die Legitimität des Intellektuellen in einer moralisch sensiblen Demokratie-Kultur auf dem Spiel zu stehen, und damit nicht zuletzt die Eigenwertschätzung des Medien-Betriebspersonals selber.

Hochgelobt wurde Grass, oder verdammt und heruntergemacht, zu verschiedensten Anlässen oft von denselben Meinungsmatadoren, eine Mittellage der Rezeption gab es zumeist nur in der einschlägigen Literaturwissenschaft. Von so etwas wie einer kritisch-toleranten Dichterverehrung, von der reflektierten Akzeptanz eines ‚Nationalautors’ war der mainstream des bundesdeutschen Identitätsdiskurses, der so oft unter eigenen Selbstrechtfertigungszwängen zu leiden hatte, über lange Zeit weit entfernt. Doch einen ‚Widersprechkünstler’ vom Schlage Günter Grass konnte man nicht mundtot machen. Selbst wenn ihm öffentlich Fehler, Schwächen und Maßlosigkeiten nachgewiesen, oder wenn diesem „Erzrepräsentanten der deutschen Schulderinnerung“ gar ein „pathetisches Sprechen ohne Scham“ (Karl Heinz Bohrer) vorgeworfen wurde, sein alter, tief im Gemütshaushalt vieler Zeitgenossen sitzender Nimbus verjüngte sich Mal um Mal, und rief neben mancherlei Abneigung und Überdruss einzigartige Sympathiewellen hervor.

Der lebensbejahende und sinnenfreudige Pessimist Günter Grass war und ist wohl nach wie vor Fleisch vom Fleische der Nation und ihrer in die Jahre gekommenen Republik. Er war oft genug ihr erregendster Zentralnerven-Stimulus und ihr sorgenträchtiges Herzgewächs, er polarisierte nicht nur immer wieder das Publikum in Freund-Feind-Bekenntnis-Rituale, sondern sein Berühmtheitsgrad unter den Deutschen überstieg nicht selten den von Movie-Stars und Spitzenpolitikern. Kein anderes Kunst- und Literatur-Lebenswerk nach 1945 ist ersichtlich, das die mentalitären, kulturellen und politischen Auf- und Abschwünge der Bundesrepublik in vergleichbarer Repräsentanz und Problemschärfe widergespiegelt und beeinflusst hätte wie dasjenige des Günter Grass. Angesichts seiner Allgegenwärtigkeit kam es manchem Zeitgenossen vor, „als gäbe es Grass schon immer.“ (Heinz Friedrich).

Es muss wohl diese Art von Hautempfindlichkeit zwischen den Deutschen und ihrem Künstler- und Bürger-Tribunen gewesen sein, die immer wieder zu den heftigen, oft maßlosen Gefühlsausschlägen im nationalen Befindlichkeitsfieber geführt hat. Aus der Rückschau betrachtet, könnte es sich noch bei den unversöhnlichsten Streitereien gleichsam um negative Formen der Wertschätzung gehandelt haben, sie dürften an der eigenen Rat- und Machtlosigkeit gegenüber diesem diskursiv unauflösbaren, über Jahrzehnte festgefügten (globalen) Dichter-Nimbus laboriert haben. Die veröffentlichte Meinung wütete – aber das große Publikum blieb seiner Autor-Ikone beharrlich treu. Noch Günter Grass’ vermeintliche Selbstdiskreditierung als ehemaliges Waffen-SS-Mitglied, in den Medien hysterisch heraufbeschworen, hat unter Lesern und Kennern kritisches Verständnis gefunden. Ein unbefleckter Held und lupenreiner Moralapostel hat Grass selber niemals sein wollen. Die Deutschen schenkten diesem biographisch lädierten, schamgeplagten Autor-Ich weiterhin ihr reges Interesse. Zwar sprach er gelegentlich von einem Zerrüttungsverhältnis zwischen der Kritik und sich selbst, aber das Fundament seiner so grenzenlosen wie robusten Reputation wurde dadurch nicht erschüttert.

Tanz-Zeiochnung Marietta