Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 8)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Wortkünstler und Staatsbürger

Dieser aufgewiegelte (Schuldabwehr-)Geist der ‚Berliner Republik’ entwickelte kaum eigene intellektuelle Konturen, aber er wollte endlich den Generationswechsel, den Wandel der Deutungshoheit und die Demission jener großen Alten, die über so lange Zeit den public spirit Bundesdeutschlands majorisiert hatten. Noch an den Reaktionen auf den Literaturnobelpreis des Dichters wurde diese Ambivalenz erkennbar. Nach anfänglicher Euphorie, den Schriftsteller als weltweit gewürdigten Nationalautor im Ruhmeslicht zu sehen, stellte sich ein peinlich berührender Katzenjammer ein. Es habe den Falschen getroffen, hieß es hier und dort in der Presse, keineswegs sei das Grass‘sche Gesamtwerk, sondern nur die ‚Blechtrommel’ prämiert worden. Im Übrigen könne man alles vorhersehen, was dieser vom Willen zur Repräsentation besessene Autor von sich gebe, sein manichäisches Weltbild mache ihm jede Reflexion auf die nach 1989 veränderte Rolle des Schriftstellers unmöglich. Und noch einmal hieß es, Grass figuriere als leibhaftiger Anachronismus, der alte Mann mit dem reflexhaften Engagement habe sich zur Karikatur des Intellektuellen entwickelt, er tanze nur noch im Takt der Medien.

An der Wirkungsgeschichte des Schriftstellers und Künstlers Günter Grass erstaunt die periodische Wiederkehr des Immergleichen. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um einen extrem polarisierten, oft genug konfusen öffentlichen Wahrnehmungs- und Urteilsprozess, der aus dem vermeintlichen Widerspruch von ästhetischer Sprach-Bildnerei und politischer Ich-Inszenierung bei diesem enfant terrible nicht herauskam. Was Günter Grass, bundesdeutsches „Wappentier“ und schmauchender Grimmbart, als selbstverständliche Dualität von freiem Schriftsteller-Künstler und verantwortlichem Staatsbürger praktizierte, war seit den sechziger Jahren für viele Kritiker ein Anlass zur Irritation, ein Ärgernis. Wie oft ist er zu seinen runden Geburtstagen oder für bestimmte Werke, für das ‚Treffen in Telgte’, ‚Im Krebsgang’, ‚Grimms Wörter’, für seine Stasi-Akte, den Briefwechsel mit Willy Brandt, oder für sein letztes Buch ‚Vonne Endlichkait’ nahezu einhellig gelobt worden, aber auf welch verheerende Weise hat man seine großen zeitdeutenden Romane wie die ‚Blechtrommel’, ‚Hundejahre’, ‚Die Rättin’, ‚Der Butt’ oder ‚Ein weites Feld’ in zutiefst kontroverse, oft hilflos zu nennende Befindlichkeits- und Deutungsstreitereien jeder (politischen) coleur gezerrt.

Der jahrzehntelange publizistische Erfolg des Günter Grass rührte nicht zuletzt von jenem Synergie-Effekt her, den er so einfallsreich wie konsequent genutzt und in Szene gesetzt hat – der Verklammerung von literarischem Gegenentwurf und zeitkritisch-politischer Parteinahme: Das Gedicht kennt keine Kompromisse; wir aber leben von Kompromissen. Wer diese Spannung aushält, ist ein Narr und ändert die Welt. Stets ging es um mehr als den Dualismus von Artistentum und Bürgerverantwortung, sondern um eine Kunstidee und Kunstpraxis, die ohne innerliche Verknüpfung mit widerständigen, dabei pädagogisch temperierten Welt- und Zeitbezügen nicht denkbar gewesen wäre. Schon die ‚Danziger Trilogie’ wurde zum literarischen Ausdruck und Ferment der deutschen ‚Vergangenheitsbewältigung’, in den ‚Plebejern’ zeichnete sich die debakulöse Ost-West-Spaltung ab, ‚Örtlich betäubt’, ‚Davor’ und ‚Ausgefragt’ reflektierten die Revolutionsattitüden der 68er Bewegung, das ‚Tagebuch einer Schnecke’ sinnierte über Parteipolitik und intellektuelles Engagement, der ‚Butt’ wurde zum Historiogramm der ökologisch-feministischen Zurüstung des Zeitgeistes, in den ‚Kopfgeburten’, in der ‚Rättin’ und in ‚Zunge zeigen’ spürte man das Vibrato von NATO-Nachrüstung, Umweltzerstörung und Dritte-Welt-Verantwortung, die Novelle ‚Im Krebsgang’ debattierte die Frage der deutschen Kriegsopfer und des nachwirkenden Rechtsradikalismus, und schließlich wurde der Roman ‚Ein weites Feld’ zum ironischen Geschichtspanoptikum des nationalen Einheitsdilemmas. Immer war die Grass‘sche Literatur in (zeit-)historischen Spannungen verortet und wollte auf sie zurückwirken, politische Parteinahme und literarische Imagination verwiesen, bei allen Unterschieden in der Darstellungsform, aufeinander und verstärkten sich wechselseitig: Wer genau hinsieht, wird bemerken, dass meine literarische Arbeit wie mein Versuch, in der Politik Bürgerrechte wahrzunehmen, den gleichen Ansatz haben. Über ein halbes Jahrhundert lang zeichnete sich die wendungs- und konfliktreiche Politik-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik ab in diesem Kunst- und Schreib-Werk von weltliterarischer Bedeutung.

Nobelpreisverleihung

Grass nimmt 1999 den Nobelpreis für Literatur entgegen.