Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 7)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Vorheriger Abschnitt: Das weltumfassende Erschrecken

Bürgerrevolution und hässliche Einheit

An der deutschen Revolution, die sich seit November 1989 in der DDR vollzog, hatten charismatische Köpfe und das öffentliche Wort einen entscheidenden Anteil, und dennoch setzte sich der Prozess publizistischer Verketzerung und Demontage der Intellektuellenfigur mit Vehemenz fort. Der Autor von ‚Ein weites Feld’ (1996) will eines um keinen Preis – ein zentralisiertes Großdeutschland, ein Monstrum, das Machtstaat spielen und Auschwitz vergessen könnte. Hingegen möchte er etwas anderes mit ganzer Kraft – eine demokratisch-sozialistisch renovierte DDR als politisch abstrahlenden Partner der BRD, ja eine deutsch-deutsche Konföderation in aufgeklärt europäischer Perspektive und Verantwortung. Doch von all dem wird nichts realisiert, denn der Einheitsprozess seit dem 3. Oktober 1990, der ohne revidierte Verfassungsgrundlage bleiben sollte, führt zur politischen und ökonomischen Übernahme und Kolonisierung des Ostens durch den Westen. Im Moment ihrer Verwirklichung droht die deutsche Kulturnation in eine hässliche Einheit abzustürzen.

Der Blick des hochgemuten Aufklärers, des literarischen Zeitreisenden und Dritte-Welt-Empathikers Günter Grass, fokussiert sich nun zu dem des patriotischen Kritikers, der bald in unversöhnlicher Opposition steht gegen den politisch-medialen Block eines neu aufkommenden Patriotismus à la ‚Berliner Republik’. Grundiert waren und blieben die Grass‘schen Invektiven im moralischen Monitum Auschwitz und in der Angst vor dem Vergessen des „lehrreichen“ Befreiungsjahres 1945. Könnte nun in strotzender deutscher Machtherrlichkeit ignoriert und verworfen werden, was die Demokratisierung der Bundesrepublik erst möglich gemacht hat? Der sich hysterisierende public spirit in diesem neuen Deutschland hielt für den Dichter manche Schrecknis bereit. Ein Land, in dem der DM-Imperialismus und die ‚Treuhand’ zu skrupelloser Zerstörung ganzer Wirtschaftslandschaften befugt waren, in dem die Verflachung der deutschen Frage zur bloßen Währungseinheit selbstverständlich wurde, in dem Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und eine aggressive Festungsmentalität blühten, in dem die DDR-Schriftsteller als Verräter und Büttel des Honecker-Regimes diffamiert, ja die Intellektuellen überhaupt als desolate Sonderlinge diskreditiert wurden, in dem sich nur noch nationale Gefühligkeit breitzumachen schien, konnte Grass nicht mehr als Heimat erkennen.

Dass er den einheitsgewendeten Landsleuten in dieser Lage auch noch die Schamschwelle Auschwitz vor Augen hielt, ließ ihn in der Öffentlichkeit vollends als anachronistischen Störenfried, als Schwarzmaler und vaterlandslosen Gesellen erscheinen. In der einschlägigen Publizistik fielen nun Sätze wie: „Die ursprungsmythische Macht der deutschen Barbarei ist erschöpft. Der Rückblick erhellt immer weniger die Zukunft. Die Staatsbürgerschaft des ‚Anderen Deutschland’ ist erloschen, denn die intellektuelle Verantwortung für die Gegenwart ist eher größer geworden.“ Dagegen Grass: Wir Deutsche sollten die Last Auschwitz nicht nur als Last ansehen, sondern auch als etwas, was uns unter Schmerzen dazu gebracht hat, Demokratie ernst zu nehmen, und Vorkehrungen zu treffen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Ein Mann wie Rudolf Augstein dekretierte 1990, der Zug der Einheit sei abgefahren und Auschwitz werde „automatisch durch die Geschichte relativiert.“ Man müsse sich von dem Gedanken trennen, dass der einstige Völkermord noch konstituierend für den künftigen Lauf der Welt sei. Für Arnulf Baring war Auschwitz keine „Essenz unserer Geschichte“ mehr, es sei falsch zu glauben, die deutsche Vergangenheit könne „nur im Lichte der Vernichtungslager gesehen werden.“ Und Michael Stürmer beteuerte: „Um wieder eine normale Nation zu werden, sollten wir uns der selbstkritischen Erinnerung an Auschwitz erwehren.“

Dass Günter Grass in solchen Verdikten ein geschichtspolitisches Trauma wahrnehmen musste, war unabweisbar. Das Klima der aggressiven Denunziation intellektueller Einreden wurde in der Bundesrepublik jetzt noch schärfer, wobei die Empfindungs- und Meinungskämpfe um den Kosovo-Krieg (1999) und den Irak-Krieg (2003), um das Berliner Holocaust-Denkmal und die Auschwitz-Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche eine stimulierende Rolle spielten. Man muss die Streitereien um den Grass-Roman ‚Ein weites Feld’ (1996), um seine Paulskirchen-Rede zu Ehren Yasar Kemals (1997), seine Autobiographie ‚Beim Häuten der Zwiebel’ (2006), sein Gedicht ‚Was gesagt werden muss’ (2014), und um seinen Literaturnobelpreis in ihrer maßlosen Ausuferung als eine symptomatische Entwicklungslinie betrachten.

Grass hatte mit seinem Roman ‚Ein weites Feld’ den Deutschen das Hausbuch einer freundlich-selbstkritischen Geschichts- und Gegenwartsbefragung offeriert, doch sofort sollte es von einer brachial zu Werk gehenden (westdeutschen) Kritik à la Reich-Ranicki niedergemacht werden. Unter völliger Verkennung der artistischen Leistung des Romans, die deutsche Nationalgeschichte zwischen 1871 und 1989 vermöge eines ironisch-kritischen „Herbariums versteinerter Ansichten, Metaphern, Wortverdichtungen“ (Wolfram Schütte) nachspürbar zu machen, wurde dem Einheitskritiker Grass nicht nur literarisches Unvermögen und Gegenwartsverlust, Geschichtsrelativismus und Beschönigung der DDR-Verhältnisse vorgeworfen, sondern man griff ihn als Person direkt an. Etliche Kritiker sahen das Buch wieder einmal als Beweis dafür, dass Intellektuelle – die Verwalter der gescheiterten Utopie – bei gesellschaftlichen und politischen Problemen endgültig nicht mehr gefragt seien. Besonders an Grass, der Legende des ‚Großintellektuellen‘, könne man studieren, dass sich die „Gesinnungsästhetik“ aus 47er Zeiten überlebt habe.

Dass dieses „imperiale Ich“ in der Laudatio auf den türkischen Dichter Yasar Kemal seine Scham über die restriktive deutsche Asylpolitik zum Ausdruck brachte, dass er sich in seiner Autobiographie ‚Beim Häuten der Zwiebel’ nach Jahren des Schweigens als ehemaliger Waffen-SS-Kämpfer outete, und man ihn aufgrund seines späten Gedichts ‚Was gesagt werden muss’ als Israel-Feind, ja als Antisemiten glaubte entlarven zu können, bildete den Spitzengrat dieser (oft weltweiten) Auseinandersetzungen um einen Intellektuellen, der seinen deutschen Zeitgenossen gleichsam ins kollektive Nervensystem eingewachsen zu sein schien. Eine nahezu hautempfindliche Gereiztheit, geprägt von medialem Überdruss und verkrampftem Selbstbestätigungseifer, durchzog die Invektiven vieler Grass-Kritiker. Jetzt sprach man von einem „vorrationalen Überzeugungskern“ der westdeutschen Linken, der als „Gefühlslage alle ideologischen Ernüchterungen überlebt habe und unreflektiert in die neue, vereinigte Republik eingeschleppt“ worden sei.

2005_Kolkata (14)

Günter Grass reiste vier Mal nach Indien.

Ranicki