Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 2)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Vorheriger Abschnitt: Literatur der Ausnüchterung

Auf Widerspruch gestimmtes Kriegskind

In Danzig am 16. Oktober 1927 als Sohn einer gemischt konfessionellen, deutsch-kaschubischen Kleinbürger-Familie geboren, und als jugendlich-fanatisches Waffen-SS-Mitglied dem Zweiten Weltkrieg entronnen, teilt der früh Kunstbesessene das existenzielle Dilemma seiner ‚Flakhelfer-Generation’. Glaubensverlassen und skeptisch, vaterlos, sprachlos und geschichtslos gehen Grass und seine Alterskohorte aus dem Krieg hervor, sie sind jung und desintegriert, schuldverstrickt und weltverloren – kraft dieser „ontologischen Unsicherheit“ müssen sie ihre Identität in Zukunft neu (er-)finden. Doch weil dem gebrannten und deshalb unheilbar auf Widerspruch gestimmten Kriegskind die Erwartung des besseren Lebens als Freiheit zum Ästhetischen vor Augen steht, mangelt es ihm nicht an Selbstvertrauen und moralischer Energie. Der fieberhafte Lernfleiß des jungen Mannes ohne Abitur sollte sich bewähren in der Selbstbeauftragung zum öffentlich intervenierenden Erzieher. Grass wird sein, was er immer hat werden wollen – Künstler. Inmitten des Realitäts- und Wertezerfalls nach Kriegsinferno und Holocaust bricht er zu jener Artisten-Biographie auf, die vom harten, widerständigen Stein ausgeht und nie ins Abstrakte und Idealische entweichen wird.

Der junge Bildhauer, Zeichner und Schriftsteller arbeitet sich bald in eine Art Avantgardismus der Gegenständlichkeit hinein. Als Kunst-Schaffender will er das So-Sein der Dinge in ihrer Schwerkraft und Faszinatorik auf sich wirken lassen, aber es geht ihm nicht um die Anverwandlung ans Naturhafte, sondern um ästhetische Distanznahme, um Welt-Anschauung und artistische Selbsterprobung. Wortbildnerisches Sich-Einlassen auf die Wirklichkeit, ohne ihr zu verfallen, Widerspruch, die reflektierte Entstellung der Realität zu erweiterter Erfahrung und Kenntlichkeit – früh melden sich bei diesem Künstler ein skeptisch-humoriges Temperament und die Ausdrucksform der Groteske, der wahrheitskritischen Überzeichnung in Wort und Bild. Welches Kunstprinzip könnte jener ‚absurden’ Nachkriegsrealität sonst noch gerecht werden? Alles an dieser End- und Aufbruchphase drängt nach ästhetischer Vergegenwärtigung, die alten Zeiten und Mentalitäten, aber auch die neuen Ideologeme und Verführungswörter.

Grass schreibt – von 1956 bis 1959 im existenzialistisch aufgereizten Paris – Gedichte und Dramentexte, er verfertigt Opern-Libretti und unternimmt epische Erstversuche im kleinen, bald im großen Maßstab. Eine Art Gesamtkunstwerk scheint ihm damals vorzuschweben. Noch bevor das alles in dem epischen Reißwolf umgeschmolzen wird, der ‚Blechtrommel’, ist der junge Künstler, Lyriker und Theaterautor, der im Mai 1955 zum ersten Mal vor der ‚Gruppe 47’ auftritt, in Deutschland ein bekannter Mann. Bereits in seinen frühen Gedichten und Dramen werden widerständige Problematiken erkennbar, der Poet wendet sich gegen alles Idealische, Hoffnungsselige und Verlogene. Sein Programm ist die Entideologisierung der geistigen Lebenswelt. Vor allem in den Bühnenstücken bildet sich seine Kritik totalitärer Ideen und Verhaltensweisen heraus – mit dem grimmig-verspielten Humor Büchnerscher Provenienz möchte Grass die Tragödie des Menschen sichtbar machen, die Klischees und äußeren Fassaden seiner Zeit niederreißen, damit die monströse Wirklichkeit begriffen werde. Die Grass‘sche Dramatik, schreibt Walter Höllerer damals, setzt ein imaginatives Panoptikum des Antitotalitären in Szene, das dem Adenauerstaat einen anderen Schattenwurf, seine kleinmütige Geschichts- und Schuldvergessenheit vorhält. Der Nonkonformist, Künstler und dreinredende Intellektuelle gewinnt frühzeitig Konturen.

Grass musiziert auf dem Waschbrett – in den 50er Jahren

Doch erst in der ‚Blechtrommel’ wird jenes welt-anschauliche Amalgam aus ernüchterter Realitätsemphase und ästhetischem Oppositionsgeist, aus enttäuschter Glaubenszuversicht, existenzialistischer Skepsis und radikalisierter Ethik, aus Fremdheitsvorbehalt und historischer  (Selbst-)Vergewisserung in kühner epischer Panoramatik sichtbar. Mit seinem Welt- und Heimatfresko – Danzig als erinnerter Identitätsort – legt Grass einen Desillusionsroman vor, dessen Stilobsession allem Schwelgen in deutscher Art und Eigentlichkeit widerstreitet. Das Buch meidet jeden Anhauch von nationaler Schicksalsdämmerung und ‚O Mensch‘-Emphase, jede Einkehr ins Heimatfühlige oder Naturfromme, sondern provoziert mit dem tragikomischen Pathos alltäglicher Ungezügeltheit, mit der Zumutung durch Bilder des Abnormen und Bösartigen. Ein vergleichbares Furioso deutscher Täter-Opfer-, Schuld- und Schamreflexion hat es nie zuvor gegeben, das Nazi-Inferno samt demokratischer Nachgeschichte entpuppt sich als Moral-Desaster des kleinen Mannes: Ich, einsichtig, weil ohne Gedächtnis. Oskar, einsichtig, weil voller Erinnerungen. Kalt, heiß, warm, ich. Schuldig bei Nachfrage. Unschuldig ohne Nachfrage. Schuldig weil, kam zu Fall weil, wurde schuldig trotz, sprach mich frei von, wälzte ab auf, biss mich durch, hielt mich frei von, lachte aus an über, weinte um vor ohne, lästerte sprechend, verschwieg lästernd, spreche nicht, schweige nicht, bete. Oskars unerbittlich ruhelose, geradezu stotternde, von Schuld und Scham getriebene Selbst- und Weltbefragung möchte in die empathische Reflexion seiner Leserschaft übergehen. Kein Wunder, dass dieser so artifizielle wie realistisch temperierte Roman damals vielen Zeitgenossen fremdartig und anarchisch, obszön, politisch aufrührerisch und destruktiv erscheint. Der Erzähler-Wechselbalg Oskar tritt ihnen als aufsässige und widerwärtige Figur entgegen, als literarische Gestalt einer pathogenen Moral- und Zeitkritik. Dieser satanisch missratene, ins Idealische verrannte Kleinbürger-Künstler und sein Roman stehen erratisch da – das zerstörte Bild des Menschen anklagend, herausfordernd, zeitlos und dennoch den Wahnsinn unseres Jahrhunderts ausdrückend.

Auf solche Weise durchquert der dem Nazi-Euthanasie-Programm nur zufällig entronnene Gnom auch das deutsche Geschichtsinferno des Holocaust. Seine Suada entwirft eine Partitur des Täter-Opfer-Seins, in der die biblische Heilshistorie zur Katastrophe mutiert, zum Terror gegen die Juden inmitten einer schweigenden Christengemeinde, rassistische Hetze und Mordbrand geraten nach 1933 zur Staatsreligion. In unverkennbarer Manier löst das groteske Narrativ der ‚Blechtrommel’ die abendländische Moral, samt Gottvertrauen und Weihnachtsseligkeit, in ein Miasma von Gas und Blutgeruch auf: es strömt schon wieder Advent. Aber auch Oskar Matzerath erscheint als Täter und Opfer gleichermaßen, er ist von fragwürdiger Existenz und irrtümlicher Geburt, ja er kommt einem jener Ungeheuer [gleich], die entstehen, wenn die Vernunft schläft. Wenn ein Erzählwerk die Sprachpolitik der Versöhnung in der deutschen „Verdrängungskultur“ um 1960 unterminiert, dann ist es die ‚Blechtrommel’. Doch viele Deutsche tun sich schwer damit, dies alles von jenem fremdartigen „Barden Kaschubistans“ und unter „halbslawischer Berserkerei“ gesagt zu bekommen.