Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 5)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Vorheriger Abschnitt: Das oppositionelle Wappentier

Kulturnation und Konföderation

Günter Grass ist damals längst in aller Munde, immer mehr Meinungsbildner messen sich an seiner polarisierenden Energie, aber er selbst bleibt eine inkommensurable Erscheinung. Ablesbar ist das auch an seinen Kämpfen um die öffentliche Durchsetzung dessen, was er seit den mittleren sechziger Jahren deutsche Kulturnation nennt. Für Grass dokumentiert sich darin das Identitätsangebot einer Einheit als Konföderation, nicht als zentralisierter Machtstaat – seine Art, die Grundidee der Brandtschen Entspannungspolitik auszudeuten. Dass Politik keine Geheimwissenschaft sei, hätten die kosmopolitischen Patrioten des 18. Jahrhunderts ihren nachgeborenen Kollegen beigebracht, bleut der Wahlkämpfer Grass seinem Publikum ein. Allein dadurch habe dem Land ein Begriff der Nation ins Bewusstsein treten können, den die Linke der sechziger Jahre wiederentdecken soll. In kritischer Nachfolge zu Thomas Manns „Weltdeutschtum“ birgt auch Grass’ Bekenntnis zur Kulturnation eine mundane Verheißung, die Auschwitz keineswegs vergessen will, sondern im Bewusstsein deutscher Schuld aus dem Herkommen der geteilten europäischen Aufklärung neue humanitäre Impulse zu schöpfen verspricht.

Für die Symbiose von Nation und Kultur nichts getan zu haben, erscheint dem Schriftsteller hingegen als Ausweis des reaktionären Politikprofils der Adenauer-Erhard-Ära. Allein der 17. Juni als Staatsfeiertag wird im Westen zum Volksaufstand verklärt und verkommt zu bloßer Scheinhaftigkeit, im Osten ignoriert man das zugrundeliegende Ereignis völlig, und die intellektuelle Kultur beiderseits der Grenze sieht dem nationalen Desaster gedankenarm und tatenlos zu, mahnt der Dichter immer wieder. Dieser historische Befund liegt seinem Theaterstück ‚Die Plebejer proben den Aufstand’ zugrunde, das im Januar 1966 im Berliner Schiller-Theater spektakulär uraufgeführt wird. Das Drama entwickelt sich zum virulenten Politikum und zu einem intellektuellen Streitfall ohnegleichen, in Deutschland-West und -Ost erregt es die unterschiedlichsten Gemüter, nicht zuletzt weil der Vorzeige-Poet Brecht im Mittelpunkt der Handlung zu stehen scheint.

Die DDR-Intelligenzia ist erzürnt ob der vermeintlichen Dichter-Entehrung, und die literaturkritische Debatte im Westen wird noch überboten von einer Erregungswelle, die heftig ans Gemüt der geteilten Nation rührt. Dass der Autor sein Stück losgelöst vom Datum des 17. Juni 1953 sehen will, da es um den Widersatz von idealistischer politischer Theorie und hilfloser Praxis geht, wird im Streit um die angebliche Brecht-Verleumdung kaum deutlich. Dennoch hat es der patriotische Dichter vermocht, den Westdeutschen so etwas wie eine „diskursive Konstruktion“ von nationaler Identität begreiflich zu machen.

Dass sich Günter Grass eine renovierte und durchlüftete Patria wünscht, eine deutsch-deutsche Konföderation, aber keinen rigorosen Neutralismus predigt, stellt ein Rarum in der intellektuellen Debatte dar, vor allem aber – es bleibt kein Lippenbekenntnis. Während die radikale Linke für das ‚Nationale’ kaum ein Interesse entwickelt, und selbst kritische Köpfe wie Enzensberger sich mit der deutschen „Zerrissenheit“ als einziger Identität abfinden wollen, arbeitet Grass seit Beginn der sechziger Jahre an konkreten Verständigungsprojekten zwischen Ost und West. Dass er 1961 in Briefen an ostdeutsche Kulturrepräsentanten gegen die Berliner Mauer protestiert, und später mehrfach mit demokratischer Emphase bei Schriftsteller-Begegnungen in der DDR auftritt, dass er seit Mitte der siebziger Jahre regelmäßig seine Kollegen jenseits der Grenze aufsucht, ja zum Energiezentrum des Ost-West-Literatur- und Meinungsaustausches wird, dass er in den achtziger Jahren als Berliner Akademie-Präsident gemeinsame Protest- und Friedensveranstaltungen mit DDR-Autoren realisiert, ist bei der Staatssicherheit der DDR früh ruchbar geworden. Seit den sechziger Jahren wird Grass als Provokateur und „Feind“ der Ost-Republik in Fahndung gestellt, in den achtziger Jahren verhängt man gegen ihn ein Reiseverbot, das vom Genossen Mielke nur zeitweise aufgehoben werden sollte. Günter Grass, der Propagandist der einen deutschen Kulturnation, sollte noch den Einheitsprozess seit 1989 als kritischer Impulsgeber der DDR-Demokratisierung begleiten. Für ihn sind die Schriftsteller seit je die besseren Patrioten, gleichsam Statthalter der vorweggenommenen politischen Einheit. Erst nach Publikation des Brandt-Grass-Briefwechsels und der Stasi-Akte des Autors erhält das deutsche Publikum eine Ahnung von der patriotischen Bravour dieses „vaterlandslosen Gesellen“.

Brecht