Günter Grass. Künstler der Ungewissheit (Teil 4)

von Harro Zimmermann

Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

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Das oppositionelle Wappentier

Der so fremdartig-vertraut erscheinende Künstler-Autor, längst eine Berühmtheit der ‚Gruppe 47’, wird im Lauf der sechziger Jahre zur Ikone einer neuen, umstrittenen literarischen Opposition. Als solcher prägt Grass mit seinem weltweiten Symbolkapital seit 1961 auch die Diskussionen und Verhandlungen mit den SPD-Größen um Willy Brandt. Der einstige Emigrant und charismatische Sozialdemokrat wird für den Dichter zur Leit- und Vaterfigur, Brandt zieht ihn in die Nähe zur Parteiräson und vermittelt seiner pragmatischen Politikauffassung, seinem aufgeklärten Revisionismus manche Inspiration. Vor allem deshalb sollte Grass im eigenen Kollegenkreis zu einer ebenso illustren wie beargwöhnten Figur werden, die Beziehung zur Sozialdemokratie wird sich immer wieder als Ferment und als Scheidelinie in den intellektuellen Fraktions- und Autonomie-Kämpfen erweisen. Dass sich ein Schriftsteller als Bürger in die parteipolitische Tretmühle begibt, war im historischen Wahrnehmungsspektrum (linker) deutscher Intellektualität bis dato nicht vorgesehen.

Wenn Grass die Werbetrommel für die SPD schlug, tat er das aus staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein, aber auch mit dem Mut des unabhängigen Geistes. Grass möchte mehr sein als ein „ehrwürdiger Neinsager“, den Martin Walser damals beklagt, er will das pragmatische Engagement der Intellektuellen, er fordert Sachkompetenz, partei-orientierte Streitbarkeit und gleichwohl jede Freiheit zur geistigen Selbstentfaltung. Der Autor der ‚Blechtrommel’ und der ‚Hundejahre’ wird zum Duz-Freund Willy Brandts, zum ebenso prominenten wie berüchtigten Wahlredner, zum Politik-Vordenker und unverhohlenen Kritiker. Andererseits verliert der deutsche Intellektuellen-Diskurs dank Günter Grass seine betriebsnotorische Selbstbezüglichkeit, und wird zum Faktor des Meinungskampfes auf der parlamentarischen Ebene der Republik. Dieses Lehrstück nationaler (plebiszitärer) Demokratisierung erhöht die Irritation und das Entrüstetsein bei vielen Politikern, gewinnt aber unter der Wahlbevölkerung immer mehr Plausibilität und Anerkennung. Die Wählerinitiativen der SPD, deren kritischer Impuls einige Jahre später zu den ersten Bürgerinitiativen führen sollte, gehen auf Günter Grass’ außerordentlich erfolgreiche Anstrengungen zurück. Nur einer wie er kann zum „Wappentier“ der Bundesrepublik, zum schnauzbärtigen Inbegriff einer so bürgernahen wie freizügigen politischen Debattenkultur werden.

Dass die SPD 1969 eine Große Koalition mit der CDU/CSU eingeht und den Notstandsgesetzen zustimmt, dass ein Kanzler wie Willy Brandt im späteren sozial-liberalen Bündnis ermüdet und unter schmählichen Umständen gestürzt wird, und dass sein Nachfolger Helmut Schmidt den Diskurs mit den Intellektuellen weitgehend vernachlässigt, stellt auch für Grass einen Prozess der intellektuellen Desillusionierung da. Seither hat sich für ihn der Aggregatzustand des Politischen verändert, das von den Achtundsechzigern beklagte Demokratieversagen, die Virulenz des Neonazismus und die Globalität von Hunger, Krieg und Umweltzerstörung treten in sein Blickfeld. Günter Grass wird vom notorischen Erfolgshelfer der SPD zu deren Kritiker.

Zumal die Auseinandersetzung mit der sich radikalisierenden Studentenbewegung hat dafür neue Bedingungen geschaffen. Berlin wird nicht zufällig zum wichtigsten Zentrum des akademischen Protestes, denn die Metropole hat in den sechziger Jahren Profil gewonnen als neue deutsche Literatur-Hauptstadt. Hier ist ein eng vernetztes, politisch aufgereiztes Kultur- und Diskussionsklima entstanden. Auch Grass ist daran beteiligt, in der Frontstadt ein „bisschen Kennedy“ zu verwirklichen, eine neuartige Symbiose von Geist und Macht. Doch die Idee Hans Werner Richters, „legale Beziehungen“ zur Politik herzustellen, und das „Gerede von den ‚destruktiven’ Intellektuellen“ mundtot zu machen, wird bald abgelöst von einem politischen „Wirklichkeitstheater“ (Hans Mayer), für das die Alt-Linke kein Verständnis mehr aufbringen kann. Die einst im Widerstand verbundene „Gefühlskoalition“ bröckelt, es zieht das Ende des „Narrenparadieses“ herauf.

Aus Sicht der studentischen Revolte geht es um eine neue Form von literatur-politischer Geistesgegenwart, um „Situationsästhetik“, Poesie soll unmittelbar in die subversive Aktion übergehen. Surrealistisch inspirierte Happenings, karnevaleske Formen öffentlicher Provokation und Systemkritik, mediengerechtes Revolutionsgebaren, (un-)verhohlene Gewaltbereitschaft lassen den öffentlich gescholtenen „Radikalinski“ zum Begriff werden, Demonstrationen und Knüppelattacken der Polizei geraten nach Etablierung der Großen Koalition 1966 zu Merkzeichen der politischen Kultur in der Republik. Auch Günter Grass setzt sich in Widerspruch zur ‚revolutionären’ Spontanästhetik der Studenten. Unklar bleibt indes, welche Art Literatur den überzeugenden Sprechort in der Stunde bildet, die es geschlagen hat. Nicht zuletzt deshalb möchte Hans Magnus Enzensberger den Kollegen Grass im Jahre 1968 als „Paradebeispiel des erledigten sozialdemokratischen Reformismus“ vorführen. Doch trotz ihrer ‚subversiven’ Aktionswut bleibt auch Grass ein kritischer Sympathisant der Studentenbewegung, er kämpft darum, die junge Intelligenz in die Bahnen der demokratisch-reformistischen Wählerinitiativen zu lenken. Im Hexenkessel der Berliner Studentenunruhen, die nicht selten von pogromartigen Polizeimaßnahmen des Senats und von Hetzkampagnen der Springer-Presse geprägt sind, tritt er mehrfach als Vermittler in Erscheinung. Gegen den lauthalsen Idealismus der Seminarmarxisten setzt der Dichter einen pragmatischen Politikbegriff, der von selbstbewusster Gesprächsbereitschaft nicht lassen will. Auch in den Jahren danach sollte er gegen jede Revolutionsattitüde und den subkutanen linken Gewaltkult, gegen den offenen Terrorismus und die ihn begleitende Intellektuellenhatz, nicht zuletzt gegen den ‚Radikalenerlass’ eifern. Noch in seinen letzten Lebensjahren wird Grass hervorheben, dass die politische Kultur der Bundesrepublik ein neues 1968 dringend nötig habe.

Kapitalistischen overkill und militärischen Rüstungswahn, Dritte-Welt-Ausbeutung, Naturzerstörung und westliches Demokratieversagen beklagt auch Grass als strukturelle Probleme, aber seine Perspektive bleibt die des Revisionisten im Umkreis der SPD. Auf diese Weise wird der Schriftsteller – wie zu Beginn der sechziger Jahre, so auch an deren Ende – zu einer Art Ferment und zum Scheidepunkt der Umwälzung des politischen public spirit in der Bundesrepublik. Die damalige „Kernfusion von Gegenkultur und Kulturindustrie“ (Walter Grasskamp) verquickt ihn in eine Mehr-Fronten-Streit-Situation. Für Rudi Dutschke ist der „Kampf gegen Grass“ das wichtigste Anliegen der Studentenbewegung, und der jungen Literaturkritiker-Garde erscheint er entweder als SPD-Bonze mit kapitalistischem Habitus, oder als Vertreter des „Narrenstatus“ der obsoleten reformistischen Intelligenz. Die Alt-Linken verdächtigen ihn des blanken Antikommunismus und der Kumpanei mit der Macht, und der bürgerlichen Kulturkritik gilt er als Beelzebub der gesamten Oppositionskultur, oder sie umwirbt ihn mehr oder weniger unverhohlen als denkbaren geistigen Kompagnon.

1927-jahrgang

Günter Grass zwischen Willy Brandt und seiner Frau Rut.